© Ilse Ruppert
Als Kostümbildnerin verstehe ich meinen Auftrag auf zweifache Weise: zum einen muss ich eine visuelle Sprache mit klar lesbaren Zeichen entwickeln, die die Vision des Regieteams unterstützen, Handlung und Rollenarbeit bestärken; andererseits will ich den Zuschauenden visuelle Reize bieten, sie durch mein Handwerk inspirieren und unterhalten. Für OPER OTZE AXT sollte ich Punkkostüme für Opernsänger:innen (oder doch Opernkostüme für Punks?) entwerfen. Die Ostpunklegende »Otze«, seine fünf Doppelgänger (die archetypisch angehauchten Rollen des Magiers, Schattens, Schlägers, Verletzten Tiers und Inoffiziellen Mitarbeiters), seinen »Vadder« sowie die Bürgerschaft der DDR (als Chor) sollten für drei verschiedene Musiktheaterbühnen (West-)Deutschlands ausgestattet werden. In den folgenden Zeilen werde ich nun einige Aspekte und Hintergründe meines Ausstattungskonzepts für OPER OTZE AXT erläutern.
Die Arbeit begann mit der Recherche zur »Mode« der Punks in der DDR, wobei der Begriff Mode an dieser Stelle mit Vorsicht zu genießen ist. Bei den frühen Punks war das Sich-Kleiden das Gegenteil von Mode, eine Geste der Ablehnung von Konformität, des Widerstands, der Suche nach Individualität. Dennoch ist bekannt, dass Ostpunks die Ästhetik der Punkbewegungen des Westens nachahmten. Dies stellte für die streng geregelten Sitten der DDR, wo Mode in Fünfjahresplänen aufgefasst wurde, eine Form der Systemkritik dar. Zudem musste alles selber gemacht werden: es wurden alltägliche Klamotten umgenäht, gefärbt, verfärbt, besprüht und beschriftet. Die DDR-Punks kleideten sich mit dunklen Anzughosen oder Arbeitshosen, oft mit Hosenträgern oder Hochwasserschnitt, kombiniert mit Trenchcoats, karierten oder dunklen Jacketts und seltenen Lederjacken. Weiße Hemden mit dünnen Krawatten oder selbst bemalte T-Shirts waren verbreitet. Als Antischmuck trugen sie Sicherheitsnadeln, Ketten aus Klospülern, Hundewürger oder Rasierklingen. Ihre Frisuren waren kurz und struppig, das Gesicht oft mit schwarzen Lippen, roten Cat-Eyes oder aufgemalten Narben verziert. Anfangs kleideten sich Punks noch recht ordentlich, wenn auch mit gewagtem Styling; später entstand der »klassische« Punk-Look: dreckig, zerrissen, befleckt, geflickt. Badges, Armbinden und Schriftzüge auf der Kleidung zeigten Bandnamen wie Sex Pistols oder Clash sowie politische Parolen. (Quelle: Michael Horschig: In der DDR hat es nie Punks gegeben. In: »Wir wollen immer artig sein…« Berlin 1999, S. 10–22.)
Während der Recherche drängte sich mir eine immer dringendere Frage auf: Wenn Kostüm in der Regel die Norm einer Kultur auf die Bühne überträgt, wie stellt man einen Teil der Gesellschaft dar, der das System ablehnt und im Widerstand dazu lebt, ohne das in einer ästhetischen Formalisierung zu entwaffnen, zum toten Symbol zu verwandeln? Wie kann man Kostüme kreieren, die die Ästhetik von Punk im Moment verkörpern, bevor sie assimiliert und zu einer Mode geworden ist? Wie kann man die Wechselwirkung zwischen Mode, Widerstand und der Suche nach der eigenen Individualität im Kostüm darstellen?
Die Herstellung der Kostüme erfolgte fast ausschließlich durch das Aussuchen, Anpassen und Kombinieren von Kostümartikeln aus dem Bestand der Theater, mit denen die DDO im Rahmen von NOperas! kooperierte. Diese Arbeitsweise ist einerseits der Punk-Ethik getreu, die sich konsumkritisch positioniert und in der Kreativität und Selbstausdruck aus der Transformation von gefundenem Material hervorgehen. Des Weiteren bildet die Erstellung von Kostümen aus den verschiedenen Fundusbeständen und in enger Zusammenarbeit mit den Gewandmeister:innen der Theater eine nachhaltige Praxis, weil sie materielle Ressourcen schont, Kosten spart und soziale Verhältnisse stärkt.
Die Kostüme entstanden daher aus einer Mischung von Theaterfundus und Alltagskleidung. Relativ schnell kam ich zur Idee, mit Theaterkostümen im barocken Stil zu experimentieren. Nicht nur sind barocke Kostüme bunt, opulent, pompös, ausgesprochen »theatralisch« – und dadurch perfekt geeignet, um »Kostümiertheit« darzustellen. Die Wahl dieser Periode ergab sich als Metapher für die Wende, eine Epoche des Umbruchs, der Krise und Neuordnung. In der frühen Neuzeit zerfiel der Feudalismus und der freie Markt nahm seine ersten Formen an, die Macht der Kirche geriet ins Wanken, es entstanden die moderne Wissenschaft und die Demokratie, während Kriege und gesellschaftliche Umwälzungen tobten: Zwischen dem Dreißigjährigen Krieg und den Bauernkriegen. In den 80er Jahren brach die sozialistische Diktatur der DDR zusammen, das politische System wandelte sich von einer Einparteienherrschaft zur Demokratie, der Kapitalismus löste die Planwirtschaft ab. Viele Menschen in der DDR erlebten den Umbruch als existenzielle Unsicherheit, wie die Menschen in der frühen Neuzeit glaubten, dem Ende der Geschichte nah zu stehen. In Stotternheim, Otzes Geburtsort, wurde Martin Luther vom Blitz getroffen, was er als Zeichen der Berufung interpretierte und ihn zum kirchlichen Werdegang animierte. So öffnet sich in Stotternheim ein Portal zwischen zwei Epochen, eine Verbindung zwischen der frühen Neuzeit und der Wende. Auf der Bühne ziehen die Otze-Doppelgänger immer wieder barocke Jacken und Westen an und aus. Durch die szenischen Umzüge werden neue Handlungen aktiviert – ein Punkkonzert, der erste Besuch im Westen nach dem Fall der Mauer, die Idee des Vatermords. Dabei tragen sie schwarze Springerstiefel mit Stahlkappen und dreckigen Arbeitshosen, ihre Gesichter sind mit dickem Eyeliner und dunklen Farbverläufen ausdrucksstark geschminkt. Indes stellt der Chor, in grauer Arbeitsbekleidung, mit hellem Puder, schwarzen Kontaktlinsen und billigen Perücken, die Uniformität der Massengesellschaft aus Perspektive der Punks dar. Im dritten Akt, kurz vor der Öffnung der Mauer, verkündet der Magier: »Kommet und seht. / Das Rad der Geschichte hat sich zum letzten Mal gedreht.« Das Bild des Rads taucht im Kostümbild in Form von Achterkrausen auf, die von allen Darsteller:innen angezogen werden – ein barockes Modeaccessoire, das unverkennbar für jene Zeit des Übergangs steht. Luther, Otze, predigen und performen, der Barock und die Wende…
Bei OPER OTZE AXT wurden historische Kostüme in ein fremdes Zeichensystem versetzt, wo sie auf Arbeitskleidung, gebrauchte Stoffe und improvisierte Ergänzungen trafen. Diese Brechung stellte die Frage nach der »Kostümiertheit« von Mode und nach dem performativen Akt des Sich-Kleidens – nicht nur im Punk, sondern auch in Bezug auf die Hauptfigur Otze und seine Epoche. Gleichzeitig fand dabei eine Meta-Reflexion über theatralische Mittel statt und darüber, wie Rollen epochenübergreifend visuell erzählt werden können. Doch was ergibt diese Ästhetik im heutigen politischen Klima? Hat sich das Rad der Geschichte doch noch einmal gedreht? Leben wir in einer neuen barocken Epoche, in einer Zeitenwende, in der Systeme bröckeln und Ideologien überholt werden, in der sich ein neues Zeitalter ankündigt, während das alte noch nicht verschwunden ist? Und wenn ja, wie werden wir uns dafür (ver)kleiden?
Matthias Baresel als Otze (© Lara Roßmann)
Eine(r) schreibt einen Text, ein(e) andere(r) komponiert auf diese Worte dann eine Musik, und wieder eine andere Person ist anschließend zuständig, das Entstandene szenisch zu interpretieren – so verläuft die Arbeit im Normalfall, wo sich Stadt- oder Staatstheater um zeitgenössisches Musiktheater kümmert. Nichts spricht grundsätzlich gegen dieses Verfahren, längst aber gibt es zusätzliche Wege, die mit veränderter Arbeitsweise auch zu anderen Formen führen. »NOperas!« unternimmt den Versuch, sie in den Musiktheaterbetrieb zu tragen.
In Darmstadt hat die Stückentwicklung von OPER OTZE AXT jetzt zu ihrem ersten künstlerischen Ergebnis gefunden. Auch während des Probenprozesses gab es noch maßgebliche Änderungen. Ein Großteil der gesprochenen Szenen wurde noch kurz vor der Premiere gestrichen. Die Handlung wurde so assoziativer, lässt viel an Erklärendem aus. »So entsteht«, schreibt das Online-Magazin »Egotrip«, »über rund 80 Minuten schlüssig der Eindruck, dass dieses Theater, ob grollend oder depressiv, stets im Kopf der Protagonisten tobt.«
»Fast expressionistisch« erscheint dieses verinnerlichte Drama nach der Premiere dem »Darmstädter Echo«. »Egotrip« fühlt sich dagegen an die Form »antiker Tragödie« erinnert – einerseits durch die besondere Rolle des Chors, andererseits wegen der kommentierenden Stimme Antonia Beeskovs, ein episches Element nach Art des klassischen Botenberichts.
Referenzen an Theatergeschichte also allenthalben. Bis hin zu Rainer Nonnenmann, dem zur stumme Rolle von Otzes Vater (Martin Gerhardt) der Vater Hamlets einfällt. Nichts von alldem erscheint mir falsch.
»Die Epik geht auf Kosten der Dramatik« kritisiert gleichzeitig Nonnenmann. Wie immer man das Ganze auch wertet, sicherlich stimmt: Kaum fügt sich die Aufführung in den Rahmen konventioneller Dramatik. Was sonst auf dem Theater als psychologische Handlung erzählt wird, wird hier in eine Dramaturgie stehender Bilder gepackt.
Auch was die grundsätzliche Einordnung dieses Projekts betrifft, ist das »Darmstädter Echo« auf der richtigen Spur: »Der Begriff ›Oper‹ scheint uns trotz des Titels nicht passend«, heißt es hier. Nun ja, auch wenn als Referenz im Titel das Wort Oper erscheint, ging es nie darum, eine Oper zu liefern. Im Begriff »NOperas« steckt neben dem Wort »opera« schließlich auch das Wort »no«.
Gestern wurde in Deutschland gewählt. 47 von 50 Wahlkreisen im ehemaligen Staatsgebiet der DDR gingen an die AfD. Klang schon in »Wir sind das Volk« damals Völkisches mit? Provokativ und von Gelächter des Publikums begleitet deutet OPER OTZE AXT die Vereinigung beider deutscher Staaten als freiwillige Selbstauslieferung Ostdeutschlands für den Preis von Bananen und Begrüßungsgeld. Wie schnell geriet damals der »Runde Tisch« ins Abseits, der nach anderen Lösungen als schlichter Angliederung suchte. Wenn nicht als Oper, wie könnte man OPER OTZE AXT einordnen? Vielleicht als deutsch-deutsches Mysterienspiel um die Dialektik von Freiheit.
Westberlin 1987, Nähe Anhalter Bahnhof (© PD)
Für die Mitglieder der »Dritten Degeneration Ost« ist die Beschäftigung mit »Schleimkeim«, ihrem Frontmann Dieter »Otze« Ehrlich, und, genereller, mit der Punkbewegung der 1980er Jahre ein Abtauchen in den Bereich ferner Ereignisse. Für mich, der ich in dieser Zeit nach Westberlin zog, ist sie ein Eintauchen in wenig sortierte Erinnerung.
An der Fassade des Hauses im nördlichen Wedding, in dem ich zuerst wohnte, fanden sich noch Granateinschläge der 40er Jahre. »Nie wieder Krieg!« hatte es in Deutschland später geheißen, im Rahmen des sogenannten »Nato-Doppelbeschlusses« hatte SPD-Kanzler Schmidt kürzlich aber die Stationierung gegen den Osten gerichteter Mittelstreckenraketen durchgesetzt. Zusammen mit meiner Generation habe auch ich damals in der Überzeugung gelebt, die Welt könnte uns in jedem Moment neu, und diesmal endgültig, um die Ohren fliegen.
Gleichaltrige machten sich drüben jenseits der Mauser ähnliche Gedanken. Während man in den Kirchen dort aber Schwerter zu Pflugscharen schmiedete, hatten wir jüngeren Westberliner mit der Zukunft bereits abgeschlossen. Wir waren satte Kinder des Wirtschaftswunders. »No Future« aber konnte man an jeder zweiten Ecke lesen. Unüberwindbar war dieses seltsame Endzeitgefühl. Und wie schon einmal in den 1920ern: Berlin, wenn diesmal auch nur sein westlicher Teil, tanzte auf dem Vulkan. Es lohnte sich nicht, Gedanken an die Zukunft zu verschwenden. Möglichst viel wollten wir rausholen aus dem Hier und Jetzt.
Techno war am Entstehen in diesem Westberlin der mittleren 1980er Jahre. Punk, meine ich, spielte als Musikrichtung keine wirklich bedeutende Rolle mehr. Er war überholt und kommerziell vereinnahmt von Neuer Deutscher Welle. Er war weitergeführt und zu etwas anderem geworden in den Noise-Exzessen der Neubauten.
Und trotzdem war Punk nicht tot. Welcher der Einzelszenen mit ihren jeweiligen Dress-Codes man in Westberlin auch angehörte: trug man nicht schwarz, konnte man sicher sein, vom Türsteher jedes halbwegs angesagten Clubs abgewiesen zu werden. Eine Art Post-Punks waren die Schöneberger Goths und New Romantics, die ihre punkigen Schädel bei Szenefriseuren stylten und ihre vergoldeten Sicherheitsnadeln in teuren Modeläden kauften. Vor allem um »Wessis«, wie man sie in Berlin damals nannte, handelte es sich bei ihnen, zugezogen aus dem Bundesgebiet, um der Langeweile und verlogenen Idylle Westdeutschlands zu entgehen. Und es gab, wenn eher auch in anderer Gegend, immer noch die echten und richtigen Punks, geboren in Kreuzberg, Neukölln oder Siemensstadt. Selten waren sie viel älter als zwanzig. Unvermeidlich wurde man von ihnen angehauen (»He Alter, haste mal ne Mark?«), wenn man am Nollendorfplatz oder Kottbusser Tor aus der U-Bahn stieg.
Schon damals gab es in Westberlin eine Unzahl an Obdachlosen. Ich hatte mir zur Regel gemacht, wenigstens jedem Dritten, der die Hand aufmachte, etwas zu geben. Kein Punk aber hat von mir aber jemals auch nur einen Pfennig erhalten. Gab es zuhause da nicht eine Mutter, die ihnen gerne ein Brot geschmiert hätte? Für mich waren sie rotzige Schulschwänzer. Wenn ich ihnen erzählt hätte, dass ich mein Studium durch Nachtschicht am Fließband der Reinickendorfer Pizzafabrik finanziere, hätten sie mich nicht für einen lachhaften Idioten gehalten?
Dass es Punks auch im Osten nicht gab, fand ich auf blamable Weise heraus, als mir nach einem Ostberliner Opernbesuch nah dem Grenzübergang drei Punkerinnen begegneten. Ich hielt sie für Westberliner Touristen und versuchte zu kumpeln: »Bloß schnell wieder rüber: grau alles hier, wer hält das schon aus!« Ungewollt zeigte ich mich da als der überhebliche Typ Wessi, dem – nachdem dies Wort dann seine Bedeutung änderte – später der zunehmende Ärger der Ostdeutschen galt.
Ost-Punks und West-Punks, noch immer fällt es mir schwer, beide Bewegungen miteinander zu verbinden. Die einen rebellierten gegen Kapitalismus, die anderen gegen (real existierenden) Sozialismus. »Macht kaputt, was euch kaputt macht!« hatten schon in den 1970er Jahren »Ton Steine Scherben« gesungen. Was aber, wenn beide kaputt dann wären? Das »A« der Anarchisten zierte zumindest in Westberlin die Jacken vieler Punks. Gemeint damit war: »Soll jeder doch machen, was ihm gefällt!« Mir kam das schon damals als kindlich vereinfachtes Verständnis der politischen Idee von Anarchismus vor, die nicht »Keine Macht für niemand«, sondern gleiche Macht für alle erstrebt und in ein verpflichtungsreiches Gesellschaftssystem geteilter Verantwortung führt, das Lichtjahre von der Lebenshaltung des Punk entfernt ist. »Mach dich doch selbst kaputt!« sang einigermaßen folgerichtig fünf Jahre nach der deutsch-deutschen Vereinigung dann Otze Ehrlich. Ohne »No Future« konnte der Punk nicht Punk sein und so war das die einzige Konsequenz, die da noch blieb.
Foto 1: Antonia Beeskow (Sound Design, Performance), Richard Grimm (Komposition) Foto 2: Neil Valenta (Mus. Ltg.), Georg Festl (Bariton), Clara Kreuzkamp (Mezzo), Frieda Gawenda (Komposition, Gesang, Performance), Julia van der Horst (Dramaturgie-Assistenz), Romy Dins (Regie)
Die Geschichte der DDR-Punkband Schleimkeim und ihres Sängers und Gitarristen Dieter »Otze« Ehrlich inspiriert dieses Projekt des »Dritte Degeneration Ost«-Kollektivs.
Wie erklärt sich Ehrlichs eigener Untergang nach dem Untergang der DDR? Konnte er nicht umgehen mit der Freiheit, für die er vorher gekämpft hatte? War die Freiheit, die er erlangte, vielleicht nicht die, für die er gekämpft hatte? (Hatte er, auch das kann man fragen, überhaupt für etwas gekämpft?)
Auf die »blühenden Landschaften«, die Kohl 1990 für Gesamtdeutschlands Osten versprach, warten wir jedenfalls noch heute. Und nicht wenige von denen, die dort damals nach Freiheit schrien, sind heute dafür, sie wieder abzuschaffen.
Grundgedanke von OPER OTZE AXT bleibt, dass Ehrlichs Geschichte mehr erzählt als ein persönliches Schicksal, dass sie etwas zu tun hat mit heutigen Problemen des vereinten Deutschlands.
Darmstädter Proben beginnen im Januar.
Anfang Dezember jetzt schon: ausführliches Vorbereitungstreffen mit Gesangsensemble und musikalischer Leitung. Gespräche über feXm und NOperas!, über jeweils persönliche Perspektiven auf west- und ostdeutsche Geschichte, die sich je nach persönlicher Herkunft und Alter scheiden. Gespräche über Oper und Punk. Über Arbeitsweisen und musikalische Ansätze.
Die Komposition wird kollektiv verantwortet. Pluralistisch geht es auch auf vokaler Ebene zu: Opernstimmen (des Darmstädter Ensembles), »Natur-«Stimmen (der Performer:innen von DDO) und dazu die Gerätschaften von Antonia Beeskow, die den Gesang dann noch durch die elektronische Mangel dreht.
Erst vor kurzem wurde die Partitur endlich fertig. Manches in ihr bleibt skizziert bloß, soll frei und improvisatorisch gestaltet werden. Viel unterliegt im Probenprozess noch möglicher Änderung und Anpassung.
Viel weiter weg vom gewohnten Musiktheater-Betrieb kann man mit all dem nicht sein. So fordert das Projekt von den beteiligten Solist:innen ein erhebliches Maß an Experimentierfreude.
Mezzosopranistin Clara Kreuzkamp bringt Offenheit und Neugier mit. Georg Festl singt nicht nur Figaro und Leporello. Er ist daneben auch Rockgitarrist und bekennender AC/DC-Fan. Thomas (Tom) Mehnert bringt Erfahrung mit einem wilden Projekt der Münchener Biennale mit ein.
Alles läuft also hinaus auf den Nachmittag, als Kompositionsteam und Gesangsensemble gemeinsam dann in Klausur gehen. Für die »Dritte Degeneration Ost« und für OPER OTZE AXT ist das die mit einiger Nervosität erwartete Stunde Null.
Auf wie fruchtbaren Boden sind die Gespräche vom Vormittag gefallen?
Ausprobieren, was man mit der Stimme machen kann. Improvisatorisch. Ohne Noten. Durchaus – Frieda Gawenda übernimmt die Leitung – aber mit Plan.
Mikros werden verkabelt. Effektgeräte verschaltet. Dramaturgie und Regieteam verjagt und raus in den Schneeregen der Rheinebene geschickt.
Nico Sauer, Jasna Witkowski, Rosa Coppola (Darmstadt 1-2, Münster 3)
Was für Räume braucht das Theater?
Nico Sauers Projekt »Die Kantine« will Hinterbühne, Werkstätten und Verwaltungstrakt zur Bühne machen. All diese Orte, die dem Publikum sonst verborgen bleiben, mussten vom Produktionsteam im November jetzt selbst erst einmal erkundet werden.
Münsters wie Darmstadts alte Theaterbauten fielen im Krieg Luftangriffen zum Opfer. Beide heutigen Häuser sind Ikonen des Theaterbaus der Nachkriegszeit. Beide besitzen zwei Bühnen mit jeweils ähnlicher Zuschauerkapazität. Ansonsten aber könnten sie unterschiedlicher kaum sein.
Münsters neues Haus, bereits 1956 eröffnet, wurde an der Stelle des alten in den erhaltenen oder wieder zu errichtenden Baubestand der Altstadt gezwängt. Abseits der Bühne wandert man hier durch enge und verwinkelte Gänge. Auch für die Werkstätten gab es hier wenig Raum. Die heutigen befinden sich weit außerhalb des Theaters in einem Industriegebiet am Rand der Stadt.
Auf einer weiten Brachfläche, die der Krieg hinterlassen hatte, konnte sich dagegen Darmstadts Theater entfalten. Erst in den späten 1960er Jahren, mitten also im »Wirtschaftswunder« wurde es gebaut. Nicht nur viel Raum stand zur Verfügung, sondern auch beträchtlich mehr an Finanzkraft. Schon der weitläufige Vorplatz (ich kenne kein Theater, das einen größeren hätte) demonstriert, wie großzügig man hier planen konnte. Großräumig und weitläufig geht es hier auch hinter der Bühne zu. Entsprechend unterschiedlich können auch beide Varianten dieses NOperas!-Projekts nur werden. Wird »Die Kantine« in Münster ohne Einbeziehung der Werkstätten auskommen müssen?
Anders als der späte Theaterneubau in Darmstadt standen diejenigen der 1950er Jahre noch unter der Idee eines Neuanfangs, der nach dem Ende der Hitlerjahre mit auch als künstlerischer gedacht war. Dabei besann man sich zurück auf die Jahre der Vorkriegsavantgarde. Bevor Werner Ruhnau sich wenig später mit dem Entwurf von Gelsenkirchens neuem Musiktheater auf weit größerem Stadtraum dann ausleben konnte, schuf er auch schon in Münster neben der großen Bühne ein »kleines Haus«, das auf flexible Bestuhlung hin konzipiert war und partizipativere Formen als die des bürgerlichen Guckkastentheaters ermöglichte. Ähnlicher Inspiration folgte zur selben Zeit auch Mannheims neues Theater, wo großes und flexibel angelegtes kleines Haus darüber hinaus auch zur Einheit einer großen Arena verbunden werden konnten, auf die das Publikum von zwei Seiten her blickt.
Heute sind beide Mannheimer Bühnen längst fix durch eine nachträglich eingezogene Mauer getrennt. Einer flexiblen Nutzung der in den 1950er Jahren variabel gebauten »zweiten« Spielstätten dagegen steht überall der Repertoirebetrieb entgegen – zu groß wäre der Aufwand, gemeinsam mit der Bühne je nach Aufführung Abend für Abend auch den Zuschauerbereich mit umbauen.
Viele Theatermacher:innen suchen indessen heute nach immersiven Formen, die das Publikum ins Theatergeschehen mit einbeziehen. Wo man es mit einem herkömmlichen Bühnenraum zu tun hat, werden Ränge und Zuschauerraum zu zusätzlichen Spielflächen, das Publikum wird herausgerissen aus der vermeintlichen Sicherheit einer Position, die sich allein aufs Betrachten beschränkt. (So geschehen etwa beim NOperas!-Projekt »Kitesh«, wo der Zuschauerraum gar zur Spielfläche eines bewaffneten Überfalls wurde.)
Oder man geht, wie Nico Sauer, noch einen Schritt weiter – man dreht die Situation einfach um, bespielt nicht mehr die Bühne, sondern ihren Außenraum.
So oder so spielt man dabei an gegen die Stein gewordene Idee bürgerlichen Illusionstheaters, das kaum mehr den Herausforderungen unserer Realität entspricht.
Etliche der nach 1945 errichteten Gebäude sind heute Sanierungsfälle. In die Köpfe der Stadtverantwortlichen ist indessen das Theater des 19. Jahrhunderts zurückgekehrt. Statt das Theater von heute und morgen zu bauen, wird überall gerade das von gestern restauriert. Dabei werden Chancen vertan, die es nur alle siebzig Jahre mal gibt.
31.10. – Bauprobe »OPER OTZE AXT« in Unterkassel. Unten: Im Mittelgrund links Markus Pockrand), rechts Bernd Klein (technische Leiter Theater Bremen und Staatstheater Darmstadt). © Roland Quitt
Auf einer Bauprobe wird der Entwurf eines Bühnenbilds geprüft, bevor er in den Werkstätten dann in Fertigung geht. Neben technischen Lösungen geht es auch um Raumwirkung und Sichtlinien. Bauteile werden mit improvisierten Mitteln angedeutet. Ort ist normalerweise die Bühne, auf der das betreffende Stück dann später zur Aufführung kommt.
Bauproben im Rahmen von »NOperas!« sind ein besonderer Fall. Sie finden am erstproduzierenden Haus statt. Der Entwurf muss variabel genug sein, um den räumlichen Verhältnissen aller Theater angepasst werden zu können. Zur Orientierung reisen auch Abteilungen der anderen Häuser mit an. Falls nicht zu viele Probleme auftreten, herrscht die gehobene Stimmung einer Fachkonferenz. Für die technischen Abteilungen ist es die rare Situation von Begegnung und Austausch mit Kollegen gleicher Zunft. Oft ergeben sich Synergien. Was fürs eine Haus schwierig ist, kann das andere leisten. Man reicht sich in technischen Fragen die Hand.
Eine besondere unter diesen besonderen Bauproben war die von OPER ATZE AXT, nicht in Darmstadt, Bremen oder Gelsenkirchen, sondern – in einer Fabrikhalle in Unterkassel. »Zieht euch warm an, der Ort ist unbeheizt«, mailte Produktionsleiterin Anne Bickert. Von der Kasseler Straßenbahnhaltestelle mit dem trügerischen Namen »Katzensprung« bleibt es ein längerer Marsch durch Industriegebiet dann bis zum Firmengelände der Hafenstraße 76. Gemütlich ist es da nicht, aber wärmenden Kaffee kriegt man im 300 Meter entfernten OBI-Markt. Vom OBI-Bäcker, der Weihnachtswahn hat begonnen, hat jemand auch vorweihnachtliche Makronen mitgebracht. Sie bleiben liegen, nachdem ein OBI-Witz betreffend Makronen und Sägespäne gefallen ist.
Fabrikhalle statt Bühne also. Und anders als sonst auch auf Bauproben: nichts wird improvisatorisch hier angedeutet, alles steht bereits fertig da: die finalen Bauteile, professionell verschraubt und verschweißt von den Leuten des RHO-Kollektivs. Als Bauprobe, »die keine war«, bezeichnet sie mit Ironie in der Stimme am Telefon später Brigitte, Bremens Operndirektorin.
RHO, nicht nur künstlerisch, sondern in diesem besonderen Fall eben auch baulich für die Bühne verantwortlich, kooperieren in OPER OTZE AXT mit »Dritte Generation Ost«, man könnte sagen: bilden ein »Subkollektiv« der DDO-Leute.
Über mehrere Wochen haben RHO in Unterkassel mit teils kostengünstig, teils kostenlos erworbenem industriellem Ausschussmaterial gearbeitet, sich vom dabei Aufgetriebenen inspirieren lassen, es experimentierend auf verschiedenste Weisen zusammengebaut, wieder auseinandergenommen, neu zusammengesetzt. Drei Objekte sind dabei entstanden: auf Rollen gesetzte Kammern, die ihre Herkunft aus Schrott nicht zu vertuschen zu versuchen, sondern geradezu ausstellen. Sie ruhen auf ausgemusterten Bühnenwägen, die das Staatstheater Kassel stiftete, so dass neben Darmstadt, Bremen und Gelsenkirchen unter der Hand also ein weiteres Theater zu dieser Produktion nun mit beiträgt.
Für die Leute von RHO, die künstlerisch sonst im Bereich von Ausstellung und Installation arbeiten, ist die DDO-Kooperation die erste Begegnung mit dem Feld des Theaters. Ihre Arbeit muss sich in Kassel nun den Häusern, vor allem dabei deren Sicherheitsbestimmungen, stellen.
Ungewohnt ist die Begegnung auch für die Theater. Dies oder jenes müsste noch zusätzlich verschweißt werden, ansonsten fällt für die Werkstätten kaum eigene Arbeit an. Trotzdem, vieles hier trifft sich mit aktuellen Tendenzen im Bereich der Performing Arts, übersetzt sie vom Gebiet der Bühnenaktion sozusagen in den Bereich der Bühnenplastik: Ein klassischer philosophischer Versuch, das Schöne zu definieren, verbindet sich damit, seinen besonderen Nutzen abzuheben von jeglichem Nutzen innerhalb der Kategorien praktischen Verwertbarkeitsdenkens. Das auf praktischer Ebene Nicht-mehr-Nützliche, dem die Wegwerfgesellschaft in ihrem Zwang zu immer beschleunigterer Produktion immer beschleunigter auch das Müllplatz-Etikett »nutzlos geworden« aufklebt, hier erscheint es entsprechend solcher Definition zu Schönem geadelt.
Analog zu der Weise, wie den Projekten von »NOperas!« im Szenischen wie Musikalischen gewöhnlich kein genau definierter Plan mehr vorausgeht, der im Probenprozess dann nur noch »auszuführen« wäre, so geht auch dieser Bühne kein Plan auf Papier mehr voraus. Wie also Theaterproben im Rahmen von »NOperas!« dem behutsam experimentierenden Prozess einer Stückfindung dienen, bei der die beteiligten Performer sich wesentlich mit einbringen, so wurde auch hier am Material selber erprobt und entwickelt. Beides trifft sich mit der Idee eines Theaters, das nicht mehr allein Illusion und also idealisiertes Gegenbild zu wirklicher Welt sein will. Wie der Performer sich als der, der er ist, dabei nicht mehr hinter Schminke und Maske verbirgt, seinen Beruf nicht mehr allein in »so tun als ab« begreift, will auch diese Bühne nicht als Attrappe eines anderen mehr gelesen werden, sondern als Darsteller ihrer selbst.
© Chat GPT 4.0, gen. v. Nico Sauer
Mit dem Ende seines zweiten Dreijahresturnus wird »NOperas!« kommendes Jahr in die dritte Runde treten – und begegnet dabei schwierigen Zeiten!
Kultur ist in Deutschland als keines der Staatsziele verankert. Für ein Gros der Politiker ist sie ein Nice-to-have, auf das man ohne viel Aufhebens verzichten kann, wenn der Gürtel mal enger geschnallt werden muss. Besonders hart trifft es im Rahmen derzeitiger Haushaltspläne die Schwachen, denen institutioneller Schutz fehlt und deren Kunst zu neu und ungebärdig ist, um Staat, Stadt oder Land zu Repräsentationszwecken dienen zu können: Willkommen in der Freien Szene!
Noch schwieriger wird es nun werden fürs freie Musiktheater, dessen Existenz als ein Kunstbereich mit eigenen Formen man selbst Kulturpolitikern immer neu erklären muss. Anders als etwa in Belgien und den Niederlanden gibt es für seine Kunst keine eigenen Mittel – innerhalb der Institutionen des Fördersystems konkurriert sie zum einen mit dem Feld von Musik, zum anderen mit Performance, Schauspiel und Tanz, ist freilich meist kostenaufwendiger als diese und zieht bei der Mittelvergabe so oftmals den Kürzeren. Im Rahmen der geplanten Beschneidung von Mitteln des »Musikfonds« und des »Fonds Darstellende Künste« verliert sie nun noch weiter an Land.
Der »Fonds Experimentelles Musiktheater« wurde geschaffen als Initiative, die sich zunächst und vor allem aufs Stadttheater richtet und einer zeitgemäßen Erweiterung seiner Musiktheater-Spielpläne gilt. Seit Einrichtung des NOperas!-Programms leistet er in solcher Richtung noch wertvollere Dienste: gleich mehrere Häuser können sich beteiligen, die Tür hierzu steht prinzipiell jedem Theater offen. Auch freiem Musiktheater aber dient er. Ziel ist, die neueren Formen der Freien ins Stadttheater zu holen und die ästhetische Kluft zu schließen, die beide bis heute voneinander trennt.
Nur eine Produktion kann mit den vorhandenen Mitteln je Spielzeit aber realisiert werden. Für die Theater ist das bereits einiges. Für die Vielzahl an Akteurinnen und Akteuren freien Musiktheaters, die um diese Produktion jährlich konkurrieren, erscheint es zunächst wenig. Immerhin aber, es ist doch mehr als nichts. Teams finden beim feXm darüber hinaus Bedingungen zu einem prozessualen und auf Nachhaltigkeit angelegten Arbeiten vor, von denen sie woanders nur träumen können. In diesen schlechten Zeiten bietet der feXm der Szene so noch wichtiger gewordenen Halt.
Bremen, das gleich über 2 x 3 Jahre dabei war, scheidet aus NOperas! ab kommendem Herbst aus. Nach 1 x 3 Jahren wird auch Gelsenkirchen (Intendant Michael Schulz wechselt nach Saarbrücken) nicht mehr dabei sein. Darmstadt beginnt seine zweiten drei Jahre. Neu als Partner hinzu tritt das Theater Münster.
Unter 40 Bewerbungen für die Saison 2025/26 bestimmte die Jury zunächst fünf Finalisten, in Wuppertal stellten sich diese dann einem vertiefenden Gespräch. Gern hätte man mindestens zweien der präsentierten Konzepte zur Realisierung verholfen. Den Zuschlag erhielt »Die Kantine« vom Team um Nico Sauer. Mutig verständigten sich auch die beteiligten Häuser damit auf ein Projekt, das stark mit eingeübter Routine bricht und ihren Betrieb vor Herausforderungen stellt.
Ein Vergleich bisheriger NOperas!-Produktionen zeigt: ganz unterschiedliche Wege führen im Musiktheater heute hinaus über die Opernform. Die ersten, die in den 1960er Jahren ein Musiktheater jenseits der Oper begründeten, kamen von musikalischer Seite. Es handelte sich um Komponisten, die nach einer »visible music« strebten und ihr Material vom Auditiven ins Visuelle erweiterten. Das »Komponistentheater« jener Jahre führt über verzweigte Weiterentwicklung bis hin zu Multimedia-Künstlern wie Nico Sauer, der sich gleichzeitig als Komponist, Autor und Theatermacher begreift.
»NOperas!« befand sich noch in Geburtswehen als 2019 COVID ausbrach. Die Pforten des Häuser waren geschlossen, das Theater suchte Auswege im Niemandsland des Digitalen und – da ihm ein erkennbares Gegenüber fehlte – in einer Beschäftigung mit sich selbst. Die Problematisierung von Hierarchien und Machtstrukturen im eigenen Arbeitsfeld hat die Bühne seitdem nicht mehr losgelassen. Auch in diesem Projekt, sein Titel deutet es an, kreist Theater um Theater. Die verspielte Offenlegung seiner arbeitsteiligen Illusionsmaschinerie bei einem Blick hinter die Kulissen, der seinerseits als Theater und also als manipulierter erscheint, wirft Fragen zum Verhältnis von Kunst und Realität und zur immer komplizierter gewordenen Suche nach Wahrheit auf, die uns auf längere Zeit weiter beschäftigen werden.