Das Kompositionsteam1 trifft sich zum ersten Mal in der frühlingshaften Hauptstadt.
Am ersten Abend geht‘s natürlich gleich in die Kneipe, wohin auch sonst mit dem ganzen Glück!
Wir besprechen die ersten Librettoentwürfe und suchen nach geeigneten Ausdrucksformen, klanglich konzeptuellen Äquivalenten zur Geschichte.
Oper, das konservative, das etablierte Musiksystem. Noise als Ruf der Freiheit, Punk als Vorschlaghammer. Wir wollen ja Oper dekonstruieren.
Wir besprechen experimentelle Ansätze zum Umgang mit Stimme,
Diamanda Gallas.
Chainsaw Man auch noch.
Der Übergang von Sound zu Stimme erinnert uns an Hermeto Pascual und wir stellen uns vor, ihn und seinen Fluss in unser Stück einzuladen.
Aber schon tot! Schade!
Der Übergang von Geräusch zu Stimme als psychologischer Prozess. Das Electronic Voice Phenomenon könnte uns den Übergang von Radiorauschen zu Sprechstimmen und Gesängen ermöglichen.
Wie kann man gesprochene Sprache komponieren, tonalisieren, modulieren oder rhythmisieren?
Wie können wir interessante Formen der Publikumspartizipation kreieren?
Der Versuch, zu viert zu komponieren, ist auch für uns Neuland.
Wir wollen Lieder, klassische Komposition, elektronische Soundscapes und die Geräuschhaftigkeit unserer Bühnenobjekte nutzen.
Nach dem Essen zeigen wir Richard verschiedenes Liedgut aus dem Agitprop und beginnen erste
Skizzen daraus zu entwickeln.
Insgesamt wird uns klar, dass wir das Libretto als Materialsammlung verstehen.
Als Grundlage unserer Komposition soll ein Szenenplan dienen, den wir in der großen Runde in den nächsten Wochen fertig stellen wollen.
Theatrale Elemente, Psychologie, Text, Musik, Objekte sollen gleichrangig in den Entwicklungsprozess einfließen.
Wir wollen keine künstlerische Hierarchie eines Departments etablieren. Das ist aufwändig und kleinteilig, aber wir vertrauen darauf, dass in der Vielheit aller Stimmen unserer Gruppe etwas uns alle Übersteigendes wachsen kann.
Der nächste gemeinsame Termin vor Ort, neben unendlichen Zoom-Meetings wird die Erstbesichtigung des Bühnenbildentwurfs Ende Mai in Kassel.
Dort können wir dann endlich anfangen, aus der Theorie ins Machen zu kommen.
1 Richard Grimm, Mathias Baresel, Antonia Beeskow
arbeitet als künstlerische Produktionsleitung und Theatermacherin in der freien Szene sowie als Autorin für Audiodeskription. Sie studierte Inszenierung der Künste und der Medien in Hildesheim.
ist mehrfach ausgezeichneter Komponist experimenteller Musik und Multiinstrumentalist. Er hat für Film, Theater und Lyriklesungen komponiert und performt als Schlagzeuger und Pianist in diversen Bandkonstellationen.
ist freischaffender Künstler und Gründungsmitglied des Künstlerduos »studio beisel«. Seine Arbeiten bewegen sich zwischen experimenteller Stückentwicklung, immersiver multimedialer Rauminstallation und Bildender Kunst.
arbeitet als Schauspieler für Film und Fernsehen. Er ist Mitbegründer des Lichtkunstkollektivs »GODALIGHT« sowie des Theaterkollektivs »SAILOR TUNE«. Gemeinsame Projekte verbinden ihn wiederkehrend mit mit verschiedensten Künstler:innen und Kollektiven.
arbeitet als Musikerin, Komponistin für Theatermusik und Performerin mit den Schwerpunkten Figuren-, Material- und Objekttheater sowie musikalische Auseinandersetzung mit poetischen Texten.
arbeitet als freischaffende Künstlerin im Drehkreuz von Konzeption, ästhetischer Forschung und künstlerischer Intervention. Wiederkehrende Arbeitsformen sind Stückentwicklung, Specifics und immersive Rauminstallationen.
arbeitet als Künstlerin, Sound Designerin, DJ und Performerin in der freien Szene, Hörspiel, Podcast, Installation, Experimental-Film und am Theater. Sie leitet darüber hinaus Workshops zu Mikrofonierung und Klanggestaltung an und schreibt als Autorin u.a. für das Fanzine »grapefruits.online« über female* Komponistinnen und Sound Artists.
ist freischaffender Komponist, Regisseur und Performer. Sein Interesse gilt der Erforschung musikalischer Grenzbereiche und Erkundung neuer Technologien im künstlerischen Kontext.
Gelungene Premiere von »Freedom Collective« am MiR. Wo sind wir aus meiner Sicht angekommen?
Davor Vinczes Partitur ist die sicherlich anspruchsvollste, mit der die Theater im Rahmen von NOperas! bisher zu tun hatten. Befürchtungen, die vereinbarte Zahl an Orchesterproben würde nicht reichen, erfüllten sich am MiR nun jedenfalls nicht: Premil Petrović – als musikalischer Leiter von außerhalb mit auch Teil des Projektteams – zeigte sich schon nach der ersten Probe angetan von Engagement und Virtuosität der Gelsenkirchener Musiker:innen. Aus ebenso vollem Mund zu loben, das optimal besetzte Quartett der vier Sänger-Darsteller:innen. Und Hut ab vor der Tonabteilung des MiR für die lückenlose Spatialisierung des Klangs und für die perfekte Amalgamierung von musikalischem Live-Geschehen und elektronischer Zuspielung.
Auch die bei weitem »opernhafteste« NOperas!-Partitur bislang hat Davor Vincze geschrieben, inklusive, man staunt, eines Liebesduetts, das dem Rosenkavalier an Kulinarik kaum nachsteht. Pathos und Schönklang, über lang waren sie definitive »No Nos« für Komponist:innen, die sich dem Musiktheaterbetrieb nicht anbiedern wollten, finden zu neuen Ehren. Jeder Klang aber bleibt avanciert. Nie fällt seine Musik ins Epigonische oder harmlos Eklektische zurück. Wo unterscheidet sich in ihr Eigentliches von Uneigentlichem, Aussage von Ironie und Zitat? Ich kämpfe mich noch immer an ihr ab.
Nun ist im Namen des NOperas!-Programms neben »Oper« auch das Wörtchen »nicht« versteckt – um Projekte, die auch theatral neue Wege gehen, soll es gehen. Projekte, die, auf welche Weise auch immer, übers traditionelle Erzählen des Operngenres hinausreichen. Bei der Projektvergabe versprach sich die Jury das vor allem vom Konzept, das Publikum mittels Smartphones ins Musiktheatergeschehen mit einzubeziehen. Zumindest innerhalb dieser ersten Projektstufe am MiR erfüllte sich dies nach Meinung der meisten nur teilweise. Manchen kam ihr Browser in die Quere. Wer stattdessen »connected« war, erlebte substanziell kaum Zusätzliches. Eine Frau, sie mochte kaum dreißig sein, mit der ich dann sprach, reagierte allergisch gar: »Ich geh ins Theater, um von dem Ding endlich mal loszukommen, selbst hier fummelt jetzt jeder aber am Handy rum!« Geht diese Beschwerde wesentlich mit auch an die Jury von NOperas!, so mussten Ansprüche, das Publikum als Handelnde ins Theatergeschehen mit einzubeziehen, schon bei »Chaosmos«, der ersten NOperas!-Produktion, am Ende zurückgeschraubt werden. Die Idee einer Gamifizierung des Musiktheaters bewegt im Moment viele. Selten sah ich dies Ziel auf überzeugende Weise bisher erreicht. Noch aber warten ja hier Bremen und Darmstadt.
Dass schon die erste Entwicklungsstufe von »Freedom Collective« den Anspruch von NOperas! trotzdem erfüllt, verdankt sich Heinrich Horwitz‘ Ansatz, nicht auf herkömmliche Weise Handlung zu erzählen. Das Publikum ist nicht auf Sitze gefesselt. Fuzzy Edges trennen Bühne und, wie das bisher hieß, »Zuschauerraum«. Die Kunstform ist nicht die einer Oper. Es ist die eines Environments aus Licht, Klang und eher symbolisch zurückgenommener Theateraktion. Eine Metaebene leistet den Trick: die vier Darsteller:innen verkörpern nicht Figuren des Stücks, sie sind Player, die diese Figuren als Avatare führen. Doch also Game, wenn auch dabei vor allem erzähltes. Nichtsdestotrotz, das Publikum soll aktiv bleiben. Vinczes Partitur leistet Unterstützung, indem sie – ein Schlüsselmoment – mitten im Stück aus dem Opernidiom über längere Zeit in elektronische Dancefloor-Klänge ausbricht. Einige ließen sich vom Ensemble als Animateuren zum Raven mitreißen. Andere wirken zumindest an diesem Premierenabend eher irritiert, überwinden kaum ihre Hemmung, den Operntempel des MiR auf gewünschte Art mit zu entweihen.
Der Abend war ausverkauft und der Altersdurchschnitt lag um gut die Hälfte unter dem gewöhnlicher Opernabende. Schlagendes Beispiel dafür, dass Musiktheater neue Formen und wohl auch neue Formate braucht, will es künftig auch jüngere mit erreichen. Die meisten gaben sich einfach dem Genuss des »medialen Overkill« (Deutsche Bühne) hin. Sofern sie mitbekommen hatten, dass im gesungenen Text vielfach von Drogen die Rede ist, erlebten sie auch ohne diese so einen berauschenden Abend. Vinczes Musik allerdings erzählt in jedem Augenblick eine Geschichte mit vielerlei Handlungswendungen: Wer kämpft gegen wen, wer liebt, wer verrät wen, was passiert dabei wem und warum? So kleben andere mit dem Auge an den Übertiteln, die die gewohnte Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum, Theater und Publikum ungewollt wieder herstellen. Man versucht Handlungskonflikte zu entziffern, auf die es der Szene nicht ankommt, strandet dabei und fühlt sich am Ende gefoppt.
Selten habe ich so unterschiedliche Stimmen wie nach dieser Premiere gehört. Entscheidendes hat sie erreicht, wenn sie zu so engagierten Diskussionen führte. Als NOperas!-Projekt lebt »Freedom Collective« nach meinen Empfinden wesentlich aus der gewollten Dialektik zwischen Vinczes Revival einer genuinen Operndramatik und Horwitz‘ theatraler Postdramatik. Letztere behält hierbei bisher dabei die Oberhand.