Ende der Gelsenkirchener Fundstadt-Aufführung: Kinderstimmen und klangliche Reminiszensen driften durchs Foyer (© Roland Quitt)
2. Juni: Premiere von »Fundstadt« in Bremen. / 16. Juni: Premiere in Gelsenkirchen. »Zauberhaft« nennt der Rezensent der Bremer Kreiszeitung die Aufführung. Fundstadts Anspruch, »die Welt mit Kinderaugen […] sehen« zu lassen, so meint er, mute zunächst »schon ein bisschen kitschig« an. Mit das größte Pfund besteht denn auch darin, allem Kitsch entronnen zu sein. So wie das Team den beteiligten Kindern auf Augenhöhe begegnete, tut es nun auch das Publikum. Die »Wesen«, welche die sechs Kinder als Begleiter für sich erfanden, erscheinen in nicht wenigen Fällen bedroht. »Sie wollen dich kaputt machen« sagt Ali zu seinem, das er in einer Schuhschachtel versteckt. Er verspricht ihm, es zu beschützen. »Die Wahrheit ist nicht immer die Schönste« spricht aus dem Off die Stimme eines Mädchens aus Bremen (meistenteils sei sie geradezu »widerwärtig«). Tierärztin möchte sie werden. Was aber, wenn ein Tier in Not geräte und gleichzeitig ein Freund ihre Hilfe brauchte? Es gäbe dann kein richtiges Handeln. So hat sie sich entschlossen, auf Freund:innen in ihrem Leben zu verzichten. Heil ist keine dieser Kinderwelten.
Wo Klang sich im Musiktheater nicht gegen das Visuelle stellt, läuft er Gefahr im Unterbewussten zu versanden. Dem entgehen auch die sechs Filme nicht. Vor dem Filmbild verflüssigt sich die Musik stellenweise zum Soundtrack, obwohl sie verdient hätte, bewusster gehört zu werden. Die Live-Aktionen, gestaltet von Kindern und Instrumentalist:innen, fangen das dann wieder auf. Ihre visuellen und klanglichen Erinnerungsmotive holen Bilder und Klänge des Films zurück.
Die sechs filmischen Kinderportraits bleiben in beiden Städten die selben. Jeweils drei verknüpfen sich in jeder Stadt unmittelbar mit dem Ort, an dem man sie sieht. Die Live-Aktionen unterscheiden sich als solche in beiden Städten nur unwesentlich, verändern mit unterschiedlicher räumlicher Platzierung aber ihren Charakter. Die Flächen von flirrendem Goldpapier – sie verweisen aufs Filmwesen im Schuhkarton – wirken lebensfroh im Gelsenkirchener Sonnenschein, magisch im Bremer Fußgängertunnel.
Das kurze Finale, in dem die Live-Kinder mit dem Publikum interagieren, fand in Bremen in der Theateratmosphäre der dortigen Brauhaus-Bühne statt. Buntes Licht illuminierte unregelmäßig platzierte Knautschsessel. Hatte man in Gelsenkirchen seinen Weg als einer der ersten beendet, traf man im oberen Foyer des MiR auf dreißig in strenger Reihe ausgerichtete Feldbetten, als wäre Beuys wieder geboren, um die Wandfläche Yves Kleins zu kontrapunktieren. Die Irritation, »was hier eigentlich Theater ist und was vielleicht ganz einfach so zur Welt gehört« (Bremer Kreiszeitung) wurde hier nicht aufgelöst, sondern symbolisch noch einmal überhöht beim weiten Blick durchs Glasfenster auf Gelsenkirchen als Fundstadt. Wenn dreißig Personen dann aufgereiht auf den Feldbetten lagen, erschienen sie wie Verwundete in einem Lazarett. Als Ärzte erschienen über ihnen Kinder. Man blickte vom Feldbett zu ihnen herauf und die Kleinen waren plötzlich die Großen. Der Reihe nach widmeten sie sich jedem Patient, indem sie durch einen Handspiegel hindurch einen Blick mit ihm tauschten.
Heinrich Horwitz im kleinen Haus des MiR (© Emmerig)
»Fundstadt« ist mitten im Endspurt und »Freedom Collective« nimmt Fahrt auf. Häufig finden sich im Mai oder Juni zwei Produktionsteams des feXm am gleichen Haus. Während HIATUS auf der Probebühne des MiR arbeitet, finden ein paar Räume weiter die Abteilungen zum ersten Gespräch mit den Leuten von »Freedom Collective« zusammen. Heinrich (Regie) und Magdalena (Bühne) waren noch gestern in Bremen, nächste Woche folgt Darmstadt. Das Publikum, so die Idee, soll sich während der Aufführung frei bewegen können. Jede der Bühnen bietet dabei andere Zwänge, jede auch andere Möglichkeiten. Von überall soll indessen gleich gut gehört werden – Aufwand für die Tonabteilungen zeichnet sich ab. Dazu kommt die Herausforderung des Smartphone-Netzes, das zusätzlichen Input zum Bühnengeschehen liefert. Die Orchesterbesetzung ist inzwischen fixiert. Die finale Festlegung der Stimmfächer steht nun an. Alle Häuser sollen die Gesangsparts möglichst aus eigenem Ensemble besetzen können, Gäste schlagen aufs Eigenbudget des Produktionsteams. Teamintern ist dabei Inszenatorisches mit Musikalischem abzugleichen. Davor (Komposition) antwortet aus Lyon, wo er die erste seiner zwei Wochen am GRAME (Générateur de ressources et d’activités musicales exploratoires) verbringt und bereits mit der Arbeit an der Ebene elektronischer Zuspielungen beschäftigt ist.
© Roland Quitt
NOperas! setzt sich zur Aufgabe, Formen und Wege eines neuen Musiktheaters ins Stadttheater zu bringen. Noch immer ist der dortige Betrieb aber allein auf die klassischen Musiktheater-Erzählformen eingerichtet. Die Interviews in Wiebke Pöpels filmischer Dokumentation des letzten NOperas!-Projekts illustrieren auf schöne Weise nicht nur die Irritationen, die dies für beide Seiten, Stadttheater und Akteur:innen der Freien Szene, immer neu mit sich bringt, sondern auch gleichzeitig die Notwendigkeit zu gegenseitigem Anpassen und Voneinanderlernen. Wie soll man es zu einer Zusammenarbeit von Orchestermusiker:innen und Kindern bringen, wenn die Orchestergewerkschaft nur Arbeitszeiten erlaubt, wo Kinder entweder in der Schule oder zum Schlafen im Bett sind? Vor diesem Problem stand »Fundstadt«. Zu entsprechenden Diensten kann niemand verdonnert werden. Gelingen kann alles nur durch individuelle Überzeugungsleistung und Bereitschaft zu großzügigem Vorbeilavieren an den bestehenden Regeln.
Bei der Hauptprobe in Bremen gestern fanden viele der im Stadtraum postierten Musiker:innen und Kinder, nur ein so verwundertes wie gleichzeitig verständnisloses Publikum zufälliger Passant:innen. Bei der Abfolge von Fotos, die dem eigentlichen Testpublikum auf seinen Tablets als Wegweiser dienen sollten, hatte sich ein Fehler eingeschlichen – mehr als die Hälfte irrte schon bald an den Stationen vorbei orientierungslos durch die Stadt. Im Theater hält man sich in solchen Situationen an den festen Glauben, es stelle kein gutes Omen für die Premiere dar, wenn Abschlussproben zu glatt laufen. Bis um Vier in der Nacht wurde an den Tablets dann getüftelt, heute bei der Generalprobe fanden alle den Weg. Die goldene Erscheinung, die mir im Fußgängertunnel begegnete, drängte mich gegen die Wand und informierte mich dann (mit Kinderstimme): »Ich weiß alles, ALLES über dich!«. Alles wirklich? O Gott! Wenig beruhigend war dann auch die weitere Auskunft: »Du wirst eines SEHR grausamen Todes sterben!« Das Goldwesen, sagte mir Uta Plate dann, indem sie ihren Korrekturzettel zückte, sei nicht instruiert gewesen, mich so alptraumartig zu adressieren. Ich riet ihr, nicht einzuschreiten. Auch für meine Begleiterin hatte die Tunnelsibylle nichts Schönes parat: »Du wirst morgen früh deinen Kaffee verschütten!« Unglück bleibt jedenfalls relativ! Für morgen bleibt vor allem zu hoffen auf Wechsel der Bremer Novembertemperaturen.
Jasons Schreibtisch © Hiatus
Fundstadt geht in den Endspurt. Als eine »urbane Topographie zweier Städte aus der Perspektive von Kindern aus sozial unterschiedlichen Verhältnissen« hat das Produktionsteam dieses Projekt bei der Bewerbung damals beschrieben. Mit jeweils drei Kindern aus Gelsenkirchen und Bremen wurde und wird weiterhin intensiv künstlerisch gearbeitet. Sie alle haben inzwischen ihr eigenes mit wesenhaften Zügen ausgestattetes »Ding« erfunden, das ihren Angaben gemäß in den Werkstätten nun gebaut wird. Sie alle haben gemeinsam mit musikalischen Pat:innen aus den jeweiligen Orchestern darüber hinaus das ihrem Ding zugeordnete »Dinglied« komponiert, das von Instrumentalist:innen der Orchester in unterschiedlichen kammermusikalischen Besetzungen nun als Tonaufnahme eingespielt wird. Jedem der Kinder wird auf dem Weg, den das Publikum zurückzulegen hat, eine eigene Station gewidmet sein. Die sechs Kinder selbst, ihre Dinge und Dinglieder werden Bestandteile des digitalen Geschehens sein, man via Tablets an diesen Stationen für sich abruft. Begegnen wird man unterwegs immer wieder auch musiktheatralen Live-Aktionen, für die sich weitere Kinder und weitere Orchestermusiker:innen zusammengefunden haben. Eines der sechs Filmkinder ist Jason. Folgende Mail schrieben Hiatus an die Gelsenkirchener Interpret:innen seines Dinglieds:
»Liebe Mariana Hernández González,
lieber Istvan Karacsonyi, Gioele Coco, Rainer Nörenberg, Uwe Rebers,
ihr seid das DINGLied-Ensemble von Jason, wir freuen uns, Euch erleben zu dürfen! Jasons Wesen ist ein Geschöpf von einem anderen Planeten, der aus rotem Sand besteht. Es hat vier Hände, zwei menschliche, zwei Krebsscheren, und auf dem Kopf trägt er nochmals Knochen, um vor Angriffen geschützt zu sein. Es kann Wände hochgehen und kopfüber an der Decke laufen, es kann sich groß und klein machen, Blitze schießen. Es isst am liebsten stinkende Socken. Im Film erschafft Jason quasi seine eigene Welt. Er beginnt in einem leeren weißen Raum und richtet seinen Arbeitsplatz in einer Garage ein, baut sein eigenes Sonnensystem. Eines Tages kommt er zurück zu seinem Atelier in der Garage und findet es verwandelt vor. Dort erscheint ihm sein Wesen. Jason weiß nicht, ob sich seine Welt in seiner Abwesenheit selber weitergebaut hat und so das Wesen entstanden ist, oder ob das Wesen heimlich weitergebaut hat. In dem letzten Musiktreffen mit Jason haben wir mit Hilfe von Jasons fantastischen »Musik-Paten« Istvan Karacsonyi den Grund für Jasons DINGLied gelegt. Mit den neun Planeten unseres Sonnensystems hat Jason Musik-Patterns erfunden. Außerdem gibt es Vertonungen von Istvan von den Superkräften des Wesens (Bsp. siehe Anhang). Die Musik wird sich analog zu Jasons Filmgeschichte nach und nach aufbauen.«
Zu Jasons Dinglied hat Duri Collenberg eine Spielpartitur entwickelt, deren unterschiedliche Stimmen dem Schreiben angehängt sind – untenstehend hier: die Noten der 1. Oboe.
lebt in London als zweisprachiger Schriftsteller , der sich auf Gedichte, Essays und Opernlibretti konzentriert. Er hat zwei Gedichtbände in Kroatien veröffentlicht (»Listing Things« 2013, »Dropdown Menu« 2015) und wurde mit zwei Opern am Royal Opera House in London, Großbritannien, aufgeführt (»Colony« 2015, »Greenland« 2015). Aleksandar hat einen MA in Opera Writing an der Guildhall School of Music and Drama in London erworben und wurde mit zwei Lyrikpreisen ausgezeichnet – dem Ulaznica-Preis (Serbien) 2011, und dem Fernando-Pessoa-Preis (Kroatien) 2012.
Premil Petrovic
ist Gründer, Chefdirigent und Künstlerischer Leiter des No Borders Orchestra, ein junges Spitzenorchester, das sich aus Musiker:innen der ehemaligen jugoslawischen Staaten zusammensetzt. Er hat Dirigieren bei Prof. Winfried Müller an der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin studiert und nahm an Interpretationsworkshops führender Dirigenten wie Simon Rattle, Pierre Boulez oder Nikolaus Harnoncourt teil. Premil Petrović gehört zu den führenden Musikerpersönlichkeiten in seiner Heimat Serbien. 1996 gründete er das Musiktheater im Cinema REX, einer der wichtigsten und politisch aktivsten Veranstaltungsorte Belgrads in den neunziger Jahren. Neben dem klassischen Orchesterrepertoire widmete er sich zahlreichen Uraufführungen zeitgenössischer Musik. Er wurde mit dem Hanns-Eisler-Preis für Komposition und Interpretation zeitgenössischer Musik ausgezeichnet. 2015 erschien die erste CD des No Borders Orchestra unter der Leitung von Premil Petrović bei der Deutschen Grammophon.
www.premilpetrovic.com
Foto © Melina Mörsdorf
(they/them/she/her/he/him)
ist Regisseur:in, Choreograf:in und Schauspieler:in. Heinrich Horwitz studierte Schauspielregie und Choreografie an der HfS Ernst Busch Berlin. Sie realisierte Produktionen in der freien Szene, an verschiedenen Stadttheatern und in der Szene der Neuen Musik. Seit 2017 arbeitet Heinrich Horwitz kontinuierlich mit dem Ensemble Decoder zusammen. Außerdem als Choreograf:in mit Sarah Nemtsov, Carola Schaal, Alexander Schubert, Ensemble Garage, Lux NM und der Kuratorin und Dramaturgin Elisa Erkelenz. Neben der Regie und Choreografie arbeitet Heinrich kontinuierlich auch als Schauspieler*in an Theater, in Film und Fernsehen.
www.heinrich-horwitz.com
Foto © Andrew Watts
wurde 1983 in Zagreb geboren. Nach seinem Kompositionsstudium in Graz und Stuttgart spezialisierte er sich auf elektronische Musik am IRCAM und promovierte schließlich an der Stanford University (USA) in der Klasse von Brian Ferneyhough. Seine Kompositionen wurden von renommierten Ensembles aufgeführt. Im Jahr 2014 rief er das internationale Festival für zeitgenössische Musik Novalis im kroatischen Osijek ins Leben, für das er noch heute als künstlerischer Leiter arbeitet.
www.db-vincze.com
Foto © Alexander Chernyshkov
ist Komponist, Performer und Improvisator. An der Universität Wien studierte er Komposition bei Chaya Czernowin, Karlheinz Essl und Clemens Gadenstätter. Er beschäftigt sich experimentell mit dem Bau einzigartiger neuer Instrumente. Im Zentrum seiner Arbeit steht Komposition und Praxis des performativen Musiktheaters. Seine Werke werden von wichtigen Ensembles und Musiker:innen aufgeführt. Als Komponist und Musiktheaterregisseur wurden Chernyshkovs Stücke u. a. an der Staatsoper Hamburg, dem Stanislavsky Elektrotheatre in Moskau, dem Teatro alle Tese in Venedig, auf den Musiktheatertagen Wien und beim Steirischen Herbst in Graz gespielt.
Foto © Hauen und Stechen
Das Musiktheaterkollektiv Hauen und Stechen wurde von den Musiktheaterregisseurinnen Franziska Kronfoth und Julia Lwowski gegründet. Sie arbeiten seit 2012 künstlerisch und strategisch zusammen. Beide studierten Opernregie an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin. In ihrer Arbeit mit dem Kollektiv streben sie ein bewegendes, zeitgemäßes, grenzüberschreitendes und genreübergreifendes Musiktheater an. Die enge gemeinsame Arbeit mit den Musikern Roman Lemberg und Louis Bona, der Dramaturgin Maria Buzhor, den Sängerinnen Angela Braun und Vera Maria Kremers, den Schauspieler:innen Gina-Lisa Maiwald, Thorbjörn Björnsson und Günter Schanzmann, dem Videokünstler Martin Mallon, den Bühnen- und Kostümbildner:innen Christina Schmitt, Yassu Yabara und Günter Lemke sowie einem dichten Netzwerk von Opernsänger:innen und Musiker:innen führte zur Entwicklung einer eigenwilligen, wilden, performativen und unverwechselbaren Theatersprache. Das Kollektiv arbeitet ortsspezifisch, mit dem Ziel, die Besonderheit der Orte durch das Setting der Aufführung zur Geltung kommen zu lassen und sie zugleich durch die Arbeit der Bühnenbildner:innen auch zu verwandeln.
www.hauen-und-stechen.com