© Ilse Ruppert
Als Kostümbildnerin verstehe ich meinen Auftrag auf zweifache Weise: zum einen muss ich eine visuelle Sprache mit klar lesbaren Zeichen entwickeln, die die Vision des Regieteams unterstützen, Handlung und Rollenarbeit bestärken; andererseits will ich den Zuschauenden visuelle Reize bieten, sie durch mein Handwerk inspirieren und unterhalten. Für OPER OTZE AXT sollte ich Punkkostüme für Opernsänger:innen (oder doch Opernkostüme für Punks?) entwerfen. Die Ostpunklegende »Otze«, seine fünf Doppelgänger (die archetypisch angehauchten Rollen des Magiers, Schattens, Schlägers, Verletzten Tiers und Inoffiziellen Mitarbeiters), seinen »Vadder« sowie die Bürgerschaft der DDR (als Chor) sollten für drei verschiedene Musiktheaterbühnen (West-)Deutschlands ausgestattet werden. In den folgenden Zeilen werde ich nun einige Aspekte und Hintergründe meines Ausstattungskonzepts für OPER OTZE AXT erläutern.
Die Arbeit begann mit der Recherche zur »Mode« der Punks in der DDR, wobei der Begriff Mode an dieser Stelle mit Vorsicht zu genießen ist. Bei den frühen Punks war das Sich-Kleiden das Gegenteil von Mode, eine Geste der Ablehnung von Konformität, des Widerstands, der Suche nach Individualität. Dennoch ist bekannt, dass Ostpunks die Ästhetik der Punkbewegungen des Westens nachahmten. Dies stellte für die streng geregelten Sitten der DDR, wo Mode in Fünfjahresplänen aufgefasst wurde, eine Form der Systemkritik dar. Zudem musste alles selber gemacht werden: es wurden alltägliche Klamotten umgenäht, gefärbt, verfärbt, besprüht und beschriftet. Die DDR-Punks kleideten sich mit dunklen Anzughosen oder Arbeitshosen, oft mit Hosenträgern oder Hochwasserschnitt, kombiniert mit Trenchcoats, karierten oder dunklen Jacketts und seltenen Lederjacken. Weiße Hemden mit dünnen Krawatten oder selbst bemalte T-Shirts waren verbreitet. Als Antischmuck trugen sie Sicherheitsnadeln, Ketten aus Klospülern, Hundewürger oder Rasierklingen. Ihre Frisuren waren kurz und struppig, das Gesicht oft mit schwarzen Lippen, roten Cat-Eyes oder aufgemalten Narben verziert. Anfangs kleideten sich Punks noch recht ordentlich, wenn auch mit gewagtem Styling; später entstand der »klassische« Punk-Look: dreckig, zerrissen, befleckt, geflickt. Badges, Armbinden und Schriftzüge auf der Kleidung zeigten Bandnamen wie Sex Pistols oder Clash sowie politische Parolen. (Quelle: Michael Horschig: In der DDR hat es nie Punks gegeben. In: »Wir wollen immer artig sein…« Berlin 1999, S. 10–22.)
Während der Recherche drängte sich mir eine immer dringendere Frage auf: Wenn Kostüm in der Regel die Norm einer Kultur auf die Bühne überträgt, wie stellt man einen Teil der Gesellschaft dar, der das System ablehnt und im Widerstand dazu lebt, ohne das in einer ästhetischen Formalisierung zu entwaffnen, zum toten Symbol zu verwandeln? Wie kann man Kostüme kreieren, die die Ästhetik von Punk im Moment verkörpern, bevor sie assimiliert und zu einer Mode geworden ist? Wie kann man die Wechselwirkung zwischen Mode, Widerstand und der Suche nach der eigenen Individualität im Kostüm darstellen?
Die Herstellung der Kostüme erfolgte fast ausschließlich durch das Aussuchen, Anpassen und Kombinieren von Kostümartikeln aus dem Bestand der Theater, mit denen die DDO im Rahmen von NOperas! kooperierte. Diese Arbeitsweise ist einerseits der Punk-Ethik getreu, die sich konsumkritisch positioniert und in der Kreativität und Selbstausdruck aus der Transformation von gefundenem Material hervorgehen. Des Weiteren bildet die Erstellung von Kostümen aus den verschiedenen Fundusbeständen und in enger Zusammenarbeit mit den Gewandmeister:innen der Theater eine nachhaltige Praxis, weil sie materielle Ressourcen schont, Kosten spart und soziale Verhältnisse stärkt.
Die Kostüme entstanden daher aus einer Mischung von Theaterfundus und Alltagskleidung. Relativ schnell kam ich zur Idee, mit Theaterkostümen im barocken Stil zu experimentieren. Nicht nur sind barocke Kostüme bunt, opulent, pompös, ausgesprochen »theatralisch« – und dadurch perfekt geeignet, um »Kostümiertheit« darzustellen. Die Wahl dieser Periode ergab sich als Metapher für die Wende, eine Epoche des Umbruchs, der Krise und Neuordnung. In der frühen Neuzeit zerfiel der Feudalismus und der freie Markt nahm seine ersten Formen an, die Macht der Kirche geriet ins Wanken, es entstanden die moderne Wissenschaft und die Demokratie, während Kriege und gesellschaftliche Umwälzungen tobten: Zwischen dem Dreißigjährigen Krieg und den Bauernkriegen. In den 80er Jahren brach die sozialistische Diktatur der DDR zusammen, das politische System wandelte sich von einer Einparteienherrschaft zur Demokratie, der Kapitalismus löste die Planwirtschaft ab. Viele Menschen in der DDR erlebten den Umbruch als existenzielle Unsicherheit, wie die Menschen in der frühen Neuzeit glaubten, dem Ende der Geschichte nah zu stehen. In Stotternheim, Otzes Geburtsort, wurde Martin Luther vom Blitz getroffen, was er als Zeichen der Berufung interpretierte und ihn zum kirchlichen Werdegang animierte. So öffnet sich in Stotternheim ein Portal zwischen zwei Epochen, eine Verbindung zwischen der frühen Neuzeit und der Wende. Auf der Bühne ziehen die Otze-Doppelgänger immer wieder barocke Jacken und Westen an und aus. Durch die szenischen Umzüge werden neue Handlungen aktiviert – ein Punkkonzert, der erste Besuch im Westen nach dem Fall der Mauer, die Idee des Vatermords. Dabei tragen sie schwarze Springerstiefel mit Stahlkappen und dreckigen Arbeitshosen, ihre Gesichter sind mit dickem Eyeliner und dunklen Farbverläufen ausdrucksstark geschminkt. Indes stellt der Chor, in grauer Arbeitsbekleidung, mit hellem Puder, schwarzen Kontaktlinsen und billigen Perücken, die Uniformität der Massengesellschaft aus Perspektive der Punks dar. Im dritten Akt, kurz vor der Öffnung der Mauer, verkündet der Magier: »Kommet und seht. / Das Rad der Geschichte hat sich zum letzten Mal gedreht.« Das Bild des Rads taucht im Kostümbild in Form von Achterkrausen auf, die von allen Darsteller:innen angezogen werden – ein barockes Modeaccessoire, das unverkennbar für jene Zeit des Übergangs steht. Luther, Otze, predigen und performen, der Barock und die Wende…
Bei OPER OTZE AXT wurden historische Kostüme in ein fremdes Zeichensystem versetzt, wo sie auf Arbeitskleidung, gebrauchte Stoffe und improvisierte Ergänzungen trafen. Diese Brechung stellte die Frage nach der »Kostümiertheit« von Mode und nach dem performativen Akt des Sich-Kleidens – nicht nur im Punk, sondern auch in Bezug auf die Hauptfigur Otze und seine Epoche. Gleichzeitig fand dabei eine Meta-Reflexion über theatralische Mittel statt und darüber, wie Rollen epochenübergreifend visuell erzählt werden können. Doch was ergibt diese Ästhetik im heutigen politischen Klima? Hat sich das Rad der Geschichte doch noch einmal gedreht? Leben wir in einer neuen barocken Epoche, in einer Zeitenwende, in der Systeme bröckeln und Ideologien überholt werden, in der sich ein neues Zeitalter ankündigt, während das alte noch nicht verschwunden ist? Und wenn ja, wie werden wir uns dafür (ver)kleiden?