Mit der Premiere am Staatstheater Darmstadt kommt die dritte Etappe von »Freedom Collective« zum Abschluss. Dem Anspruch von NOperas! folgend hat sich auch diese Produktion auf ihrem Weg »weiterentwickelt«. Schon die Unterschiedlichkeit der drei Bühnen verlangte bei jeder ein anderes Raumkonzept.
Weitergekommen erscheint mir das Projekt nun auch in der Auseinandersetzung mit dem, was früh sich als eine Art Grundkonflikt abzeichnete: Mit seiner Vertonung einer komplexen Erzählhandlung gehört »Freedom Collective« textlich und musikalisch dem Genre zeitgenössischer Oper an, auf Ebene der Bühnenaktion dagegen zielte das Regieteam auf ein dezidiert »postnarratives« Theater, das der Oper eher fernsteht. Was für ein Theater ließ sich nun in der Rückschau aus so gegenläufigen Ansätzen schaffen?
Um das Wichtigste noch einmal zu rekapitulieren: Nicht der Underground-Club, von dem das Libretto erzählt, findet sich auf der Bühne dargestellt, sondern eine Gaming-Situation. Die Performer agieren als Spielende, welche die Libretto-Figuren als Avatare führen. Weitgehend befreit sich die Aufführung so vom herkömmlichen Prinzip einer genaueren Nachzeichnung der in Libretto und Musik angelegten Erzählung. Minutiös wurde trotzdem in Gelsenkirchen zunächst noch jedes gesungene Wort übertitelt. Wer dies zum Aufhänger nahm, all den Konflikten um Drogen, Boxen und Queerness folgen zu wollen, von denen die Handlung erzählt, fand wenig Unterstützung im Bühnengeschehen und konnte am Ende nur scheitern. In Bremen wurde hieraus zunächst die Konsequenz gezogen, ganz auf Übertitel zu verzichten. Noch mehr trat das Narrativ so in den Hintergrund. Und klammert sich die Partitur auch an die differenzierte klangliche Umsetzung jedes Handlungsdetails, so erschien sie in ihrer Wirkungsweise stärker nun noch als in Gelsenkirchen reduziert auf den Charakter einer berauschenden Klangkulisse aus Gesangsstimmen und Orchesterfarben. Wie auch auf anderen Ebenen der Aufführung ging es dabei weit mehr um »Eintauchen« als Verstehen.
Zwischen Erzählen und Nichterzählen, den widerstreitenden Polen dieser Produktion, erscheint mir in Darmstadt nun ein Gleichgewicht gefunden, das die Widersprüche antagonierender Ansätze nicht aufhebt, aber gegeneinander austariert und auf diese Weise eine produktive Spannung schafft. Zurück sind die Übertitel, großzügiger aber sind sie gesetzt, nicht mehr hangeln sie sich im Sekundentakt an jedem Librettowort entlang. Die Musik – sicher keine leichte Entscheidung – ist um mehrere Passagen gekürzt, wodurch sich die Aufführung vom Ballast einiger peripherer und innerhalb dieses Theaters, das weniger erzählen als einfangen will, kaum transportabler Inhalte befreit. Im Gegenzug verschmelzen die Gamerinnen und Gamer etwas mehr nun mit ihren Avataren, stärker überträgt sich so Opernhandlung auf sie. Man weiß in Darmstadt nicht, wo man eigentlich ist, im Computerspiel oder doch im Underground-Club und diese Unsicherheit überträgt sich auf den Besucher nicht als Manko, sondern als Unentwirrbarkeit gleichzeitiger Realitätsebenen.
Wie an den vorigen Theatern wird »Freedom Collective« in Darmstadt unter dem Label »immersives Musiktheater« geführt. Schon in der damaligen Projektbewerbung war solch ein Anspruch geltend gemacht: Theaterbesucher sollten nicht Betrachter:innen des Bühnengeschehens, sondern Teil von ihm werden. Vor allem auf Aufhebung der Trennung von Bühne und Zuschauerraum hat die Regie dabei gesetzt. Die Akteure sollten sich mitten im Publikum befinden und dieses sollte sich selber dabei frei bewegen können. Diesem Ansatz stellen sich im großen Haus Darmstadts nun Sicherheitsbestimmungen entgegen. Früh ist im Fortgang des Projekts dabei jener Teil des Konzepts in den Hintergrund gerückt, der Immersion auf ganz andere Weise versprach. Theater sollte um neue Medien erweitert werden, wesentliche inhaltliche Ergänzungen sollten während der Aufführung auf einer Handy-App abrufbar sein. Viel Arbeit wurde in diese App gesteckt, die eigens für diese Produktion vom Experimentalstudio des SWR entwickelt wurde. Dennoch fehlte es ihr am Ende an Flexibilität, um vielfältiger eingesetzt werden zu können und zuletzt viel mehr als ein Gadget zu sein, das wenig Einfluss auf Dramaturgie und Wahrnehmung der Aufführung ausübte.
Wieviel also bleibt in Darmstadt dann immer noch »immersiv«? Ein Parcours führt das Publikum vom Foyer zunächst vor den verschlossenen Eisernen und von dort aus später auf die Bühne mit nun umgekehrtem Blick ins Parkett – kein ganz neuer Effekt, immer noch ein effektvoller zur Hinterfragung des Theaters als Illusionsmaschinerie. Von diesem Moment an, drei viertel der Aufführung liegen noch vor uns, wird »Freedom Collective« zu veritablem Guckkastentheater. Stünde es nicht anders auch auf dem Programmzettel – so what? wollte man fragen. Verfeinert hat sich gegenüber früheren Etappen die Figurenführung; wirkungsvoll wird mit der Tiefe des Raums gespielt; die 3D-Animationen erscheinen auf effektive Weise um zusätzliches Material erweitert; eine ausgefuchste Lichtregie setzt an der Musik orientierte Zäsuren und Darmstadts Beleuchtungsabteilung darf mit allem funkeln, was so ein Haus an Lichttechnik hat. Das Publikum erscheint erscheint nach Ende der Vorstellung angetan. Stirnrunzeln dann bei den Premierengesprächen aber im Bezug auf die Handys. Durch die Erwartung, die hier geschürt, aber doch kaum erfüllt wurde, fühlt sich mancher doch etwas gefoppt. Hätte man sich entscheiden sollen, die Handys zuletzt rauszuschmeißen? Wenig wäre dann allerdings noch übrig gewesen von jenem Konzept, dem die NOperas!-Jury den Zuschlag gab.
Bevor nun in der FAZ mit einiger Verspätung eine positive Kritik erschien, meinte es die Presse mit der Aufführung nicht gut. Anders als Helga und Horst versuchen sich Kritikerinnen und Kritiker vor dem Vorstellungsbesuch genauestens zu informieren, lesen Erläuterungen des Librettoinhalts, lesen auch das Zauberwort »immersiv«. Sie finden in der Aufführung kaum genug von beidem und fehlgeleitet in ihren Kriterien machen sie dann ihre Rechnung auf. Sofern der Fonds Experimentelles Musiktheater seinen Namen aber zu Recht trägt, ist das Ende immer offen. Wo immer es darum geht, »Stückentwicklung« zu ermöglichen, laufen Vorankündigungen das Risiko, dass alles ganz anders ausgeht, als es zuerst avisiert war. Vieles an Ankündigungen zu »Freedom Collective« ist lang schon in Jahresheften veröffentlicht. Anderes, das bis zuletzt falsche Erwartungen schürte, hätte sich doch aber vermeiden lassen – wohl müssen wir hier in Zukunft vorsichtiger sein.
rq