Was für Räume braucht das Theater?
Nico Sauers Projekt »Die Kantine« will Hinterbühne, Werkstätten und Verwaltungstrakt zur Bühne machen. All diese Orte, die dem Publikum sonst verborgen bleiben, mussten vom Produktionsteam im November jetzt selbst erst einmal erkundet werden.
Münsters wie Darmstadts alte Theaterbauten fielen im Krieg Luftangriffen zum Opfer. Beide heutigen Häuser sind Ikonen des Theaterbaus der Nachkriegszeit. Beide besitzen zwei Bühnen mit jeweils ähnlicher Zuschauerkapazität. Ansonsten aber könnten sie unterschiedlicher kaum sein.
Münsters neues Haus, bereits 1956 eröffnet, wurde an der Stelle des alten in den erhaltenen oder wieder zu errichtenden Baubestand der Altstadt gezwängt. Abseits der Bühne wandert man hier durch enge und verwinkelte Gänge. Auch für die Werkstätten gab es hier wenig Raum. Die heutigen befinden sich weit außerhalb des Theaters in einem Industriegebiet am Rand der Stadt.
Auf einer weiten Brachfläche, die der Krieg hinterlassen hatte, konnte sich dagegen Darmstadts Theater entfalten. Erst in den späten 1960er Jahren, mitten also im »Wirtschaftswunder« wurde es gebaut. Nicht nur viel Raum stand zur Verfügung, sondern auch beträchtlich mehr an Finanzkraft. Schon der weitläufige Vorplatz (ich kenne kein Theater, das einen größeren hätte) demonstriert, wie großzügig man hier planen konnte. Großräumig und weitläufig geht es hier auch hinter der Bühne zu. Entsprechend unterschiedlich können auch beide Varianten dieses NOperas!-Projekts nur werden. Wird »Die Kantine« in Münster ohne Einbeziehung der Werkstätten auskommen müssen?
Anders als der späte Theaterneubau in Darmstadt standen diejenigen der 1950er Jahre noch unter der Idee eines Neuanfangs, der nach dem Ende der Hitlerjahre mit auch als künstlerischer gedacht war. Dabei besann man sich zurück auf die Jahre der Vorkriegsavantgarde. Bevor Werner Ruhnau sich wenig später mit dem Entwurf von Gelsenkirchens neuem Musiktheater auf weit größerem Stadtraum dann ausleben konnte, schuf er auch schon in Münster neben der großen Bühne ein »kleines Haus«, das auf flexible Bestuhlung hin konzipiert war und partizipativere Formen als die des bürgerlichen Guckkastentheaters ermöglichte. Ähnlicher Inspiration folgte zur selben Zeit auch Mannheims neues Theater, wo großes und flexibel angelegtes kleines Haus darüber hinaus auch zur Einheit einer großen Arena verbunden werden konnten, auf die das Publikum von zwei Seiten her blickt.
Heute sind beide Mannheimer Bühnen längst fix durch eine nachträglich eingezogene Mauer getrennt. Einer flexiblen Nutzung der in den 1950er Jahren variabel gebauten »zweiten« Spielstätten dagegen steht überall der Repertoirebetrieb entgegen – zu groß wäre der Aufwand, gemeinsam mit der Bühne je nach Aufführung Abend für Abend auch den Zuschauerbereich mit umbauen.
Viele Theatermacher:innen suchen indessen heute nach immersiven Formen, die das Publikum ins Theatergeschehen mit einbeziehen. Wo man es mit einem herkömmlichen Bühnenraum zu tun hat, werden Ränge und Zuschauerraum zu zusätzlichen Spielflächen, das Publikum wird herausgerissen aus der vermeintlichen Sicherheit einer Position, die sich allein aufs Betrachten beschränkt. (So geschehen etwa beim NOperas!-Projekt »Kitesh«, wo der Zuschauerraum gar zur Spielfläche eines bewaffneten Überfalls wurde.)
Oder man geht, wie Nico Sauer, noch einen Schritt weiter – man dreht die Situation einfach um, bespielt nicht mehr die Bühne, sondern ihren Außenraum.
So oder so spielt man dabei an gegen die Stein gewordene Idee bürgerlichen Illusionstheaters, das kaum mehr den Herausforderungen unserer Realität entspricht.
Etliche der nach 1945 errichteten Gebäude sind heute Sanierungsfälle. In die Köpfe der Stadtverantwortlichen ist indessen das Theater des 19. Jahrhunderts zurückgekehrt. Statt das Theater von heute und morgen zu bauen, wird überall gerade das von gestern restauriert. Dabei werden Chancen vertan, die es nur alle siebzig Jahre mal gibt.