Westberlin 1987, Nähe Anhalter Bahnhof (© PD)
Für die Mitglieder der »Dritten Degeneration Ost« ist die Beschäftigung mit »Schleimkeim«, ihrem Frontmann Dieter »Otze« Ehrlich, und, genereller, mit der Punkbewegung der 1980er Jahre ein Abtauchen in den Bereich ferner Ereignisse. Für mich, der ich in dieser Zeit nach Westberlin zog, ist sie ein Eintauchen in wenig sortierte Erinnerung.
An der Fassade des Hauses im nördlichen Wedding, in dem ich zuerst wohnte, fanden sich noch Granateinschläge der 40er Jahre. »Nie wieder Krieg!« hatte es in Deutschland später geheißen, im Rahmen des sogenannten »Nato-Doppelbeschlusses« hatte SPD-Kanzler Schmidt kürzlich aber die Stationierung gegen den Osten gerichteter Mittelstreckenraketen durchgesetzt. Zusammen mit meiner Generation habe auch ich damals in der Überzeugung gelebt, die Welt könnte uns in jedem Moment neu, und diesmal endgültig, um die Ohren fliegen.
Gleichaltrige machten sich drüben jenseits der Mauser ähnliche Gedanken. Während man in den Kirchen dort aber Schwerter zu Pflugscharen schmiedete, hatten wir jüngeren Westberliner mit der Zukunft bereits abgeschlossen. Wir waren satte Kinder des Wirtschaftswunders. »No Future« aber konnte man an jeder zweiten Ecke lesen. Unüberwindbar war dieses seltsame Endzeitgefühl. Und wie schon einmal in den 1920ern: Berlin, wenn diesmal auch nur sein westlicher Teil, tanzte auf dem Vulkan. Es lohnte sich nicht, Gedanken an die Zukunft zu verschwenden. Möglichst viel wollten wir rausholen aus dem Hier und Jetzt.
Techno war am Entstehen in diesem Westberlin der mittleren 1980er Jahre. Punk, meine ich, spielte als Musikrichtung keine wirklich bedeutende Rolle mehr. Er war überholt und kommerziell vereinnahmt von Neuer Deutscher Welle. Er war weitergeführt und zu etwas anderem geworden in den Noise-Exzessen der Neubauten.
Und trotzdem war Punk nicht tot. Welcher der Einzelszenen mit ihren jeweiligen Dress-Codes man in Westberlin auch angehörte: trug man nicht schwarz, konnte man sicher sein, vom Türsteher jedes halbwegs angesagten Clubs abgewiesen zu werden. Eine Art Post-Punks waren die Schöneberger Goths und New Romantics, die ihre punkigen Schädel bei Szenefriseuren stylten und ihre vergoldeten Sicherheitsnadeln in teuren Modeläden kauften. Vor allem um »Wessis«, wie man sie in Berlin damals nannte, handelte es sich bei ihnen, zugezogen aus dem Bundesgebiet, um der Langeweile und verlogenen Idylle Westdeutschlands zu entgehen. Und es gab, wenn eher auch in anderer Gegend, immer noch die echten und richtigen Punks, geboren in Kreuzberg, Neukölln oder Siemensstadt. Selten waren sie viel älter als zwanzig. Unvermeidlich wurde man von ihnen angehauen (»He Alter, haste mal ne Mark?«), wenn man am Nollendorfplatz oder Kottbusser Tor aus der U-Bahn stieg.
Schon damals gab es in Westberlin eine Unzahl an Obdachlosen. Ich hatte mir zur Regel gemacht, wenigstens jedem Dritten, der die Hand aufmachte, etwas zu geben. Kein Punk aber hat von mir aber jemals auch nur einen Pfennig erhalten. Gab es zuhause da nicht eine Mutter, die ihnen gerne ein Brot geschmiert hätte? Für mich waren sie rotzige Schulschwänzer. Wenn ich ihnen erzählt hätte, dass ich mein Studium durch Nachtschicht am Fließband der Reinickendorfer Pizzafabrik finanziere, hätten sie mich nicht für einen lachhaften Idioten gehalten?
Dass es Punks auch im Osten nicht gab, fand ich auf blamable Weise heraus, als mir nach einem Ostberliner Opernbesuch nah dem Grenzübergang drei Punkerinnen begegneten. Ich hielt sie für Westberliner Touristen und versuchte zu kumpeln: »Bloß schnell wieder rüber: grau alles hier, wer hält das schon aus!« Ungewollt zeigte ich mich da als der überhebliche Typ Wessi, dem – nachdem dies Wort dann seine Bedeutung änderte – später der zunehmende Ärger der Ostdeutschen galt.
Ost-Punks und West-Punks, noch immer fällt es mir schwer, beide Bewegungen miteinander zu verbinden. Die einen rebellierten gegen Kapitalismus, die anderen gegen (real existierenden) Sozialismus. »Macht kaputt, was euch kaputt macht!« hatten schon in den 1970er Jahren »Ton Steine Scherben« gesungen. Was aber, wenn beide kaputt dann wären? Das »A« der Anarchisten zierte zumindest in Westberlin die Jacken vieler Punks. Gemeint damit war: »Soll jeder doch machen, was ihm gefällt!« Mir kam das schon damals als kindlich vereinfachtes Verständnis der politischen Idee von Anarchismus vor, die nicht »Keine Macht für niemand«, sondern gleiche Macht für alle erstrebt und in ein verpflichtungsreiches Gesellschaftssystem geteilter Verantwortung führt, das Lichtjahre von der Lebenshaltung des Punk entfernt ist. »Mach dich doch selbst kaputt!« sang einigermaßen folgerichtig fünf Jahre nach der deutsch-deutschen Vereinigung dann Otze Ehrlich. Ohne »No Future« konnte der Punk nicht Punk sein und so war das die einzige Konsequenz, die da noch blieb.