Nach mehreren Besuchen an den Opernhäusern Münster und Darmstadt — dort wird »Die Kantine« im Frühjahr 2026 Premiere haben – hat sich vieles gefestigt am Konzept des sich durch das Opernhaus bewegenden Musiktheaters. Stationen, die wir bespielen werden, stehen größtenteils fest, die Wege dazwischen auch. Die Besetzung, 15 Instrumente insgesamt, von jeder Gruppe eins, szenisch eingebundene Musiker:innen, die Erlaubnis diverser Gewerke wie der Kostümabteilung, ihre Räume mit einzubinden. Das – und vieles mehr – muss erstmal stehen, bevor die eigentliche Arbeit beginnen kann. Der Raum muss vor dem Stoff verhandelt werden, die Struktur vor der Erzählung.
Die Herangehensweise in »Die Kantine« unterscheidet sich grundlegend von dem, was normalerweise als Oper in diesen Häusern zur Aufführung kommt: es gibt keinen konkreten Stoff mit dem wir beginnen, von dem wir ausgehen, geschweige eine fertig komponierten Partitur, die auf eine wieder mal neue Art inszeniert wird. Es steht erst mal gar nichts – außer dem Konzept. Und auch das muss sich eine selbstbewusste Fluidität bewahren. Während wir tiefer ins Projekt vordringen, trüben sich die ursprünglich klaren Ideen. Und das ist gut so. Sie verdichten sich. Die Materie verändert ihren Aggregatzustand. Von heißer Antragsluft zu herabträufelnden Konzept-Kondensaten. An dieser Stelle können wir eine Bilanz ziehen – ursprüngliches Konzept vs. das, was sich im Laufe der letzten Monate als besonders spannend aus unserer Recherche herauskristallisiert hat.
Rollentausch – Künstlerisches Personal tauscht Aufgaben mit nicht-künstlerischem Personal. Konzeptuell reizvoll: Der Cellist schminkt die Sängerin, die eigentlich in der Abendgarderobe arbeitet und momentan von der Intendantin vertreten wird, während der Hauswart das Programm der nächsten Spielzeit plant. Doch in der Umsetzung entsteht ein Paradox: Sichtbarkeit wird erzeugt – aber auf Kosten von Differenz. Die Feinheiten der jeweiligen Tätigkeiten verschwimmen, und mit ihnen auch die Ausdrucksmöglichkeiten der Beteiligten. Es entsteht keine Demokratisierung, sondern eine ästhetische Glättung. »Die Kantine« will jedoch nicht von außen die Rollen durcheinanderwürfeln, sondern die inneren Mechanismen der Rollen selbst offenlegen. Der Rollentausch muss deshalb als Re-Enactment des Re-Enactments verstanden werden – nicht als Austausch von Funktionen, sondern als Sichtbarmachung ihrer Inszenierung. Eine Oper aus der Oper mit der Oper durch die Oper.
Schutzraum Oper – Biotop in ständigem und standesgemäßem Katastrophenzustand. Nicht ganz zufällig scheinen die Operngebäude großen Bunkeranlagen zu ähneln. Je tiefer man in ihre Katakomben vordringt, umso mehr verfestigt sich der Eindruck. Hinter den schießschartenartigen Fenstern und den dicken Betonwänden wird etwas geschützt oder versteckt. Während die Stoffe, die auf der Bühne verhandelt werden, eigentlich belanglos sind, ist der Opernbetrieb an sich und in sich ein Entwurf einer vorindustriellen Ständegesellschaft, ein Zunftkörper. Die Menschen führen Berufe aus, die im echten Leben längst automatisiert und wegrationalisiert wurden. Das Opernhaus ist der Schutzraum in dem Menschen mit Herzblut ihrer Arbeit nachgehen.
Die Kantine — Ursprung, Utopie und offenes Ende. Was es mit der Kantine in »Die Kantine« auf sich haben wird, muss bis zum letzten Moment offenbleiben. Die Hypothese lautet: Die Kantine ist ein Ort der Horizontalität, quer zur steilen Hierarchie des Opernbetriebs. Vielleicht ist sie aber auch nur ein Vorwand. Ein Sehnsuchtsort, der sich dem Zugriff entzieht – gerade weil er so konkret ist. Während meiner Studierendenzeit habe ich nebenbei als Übertitler im Badischen Staatstheater gearbeitet. Aus dieser Perspektive habe ich nicht nur viele Opern gesehen, sondern auch den Betrieb, die Mitarbeitenden, die Wege zwischen den Abteilungen und das Gebäude selbst. Neben dem Regieraum, von dem aus wir die Übertitel gefahren haben, war die Kantine mein Anlaufpunkt. Hier spielten sich Szenen ab, die mich bis heute verfolgen: weißgeschminkte Körper in Barockkleidern vor ihrem »Toast Madagaskar« – Krokodilmenschen und SS-Offiziere beim Weißbier. Groteske Gleichzeitigkeit. Die Kantine war ein Fiebertraum – und gleichzeitig der realste Ort im Haus. Vielleicht ist das ihr paradoxes Potenzial: Sie ist das, was nie gezeigt wird, sich aber im ganzen Stück bereits verwirklicht hat. Chiffre, Leerstelle, Möglichkeitsraum. Titel und Trugbild. Opernstoff.