Matthias Baresel als Otze (© Lara Roßmann)
Eine(r) schreibt einen Text, ein(e) andere(r) komponiert auf diese Worte dann eine Musik, und wieder eine andere Person ist anschließend zuständig, das Entstandene szenisch zu interpretieren – so verläuft die Arbeit im Normalfall, wo sich Stadt- oder Staatstheater um zeitgenössisches Musiktheater kümmert. Nichts spricht grundsätzlich gegen dieses Verfahren, längst aber gibt es zusätzliche Wege, die mit veränderter Arbeitsweise auch zu anderen Formen führen. »NOperas!« unternimmt den Versuch, sie in den Musiktheaterbetrieb zu tragen.
In Darmstadt hat die Stückentwicklung von OPER OTZE AXT jetzt zu ihrem ersten künstlerischen Ergebnis gefunden. Auch während des Probenprozesses gab es noch maßgebliche Änderungen. Ein Großteil der gesprochenen Szenen wurde noch kurz vor der Premiere gestrichen. Die Handlung wurde so assoziativer, lässt viel an Erklärendem aus. »So entsteht«, schreibt das Online-Magazin »Egotrip«, »über rund 80 Minuten schlüssig der Eindruck, dass dieses Theater, ob grollend oder depressiv, stets im Kopf der Protagonisten tobt.«
»Fast expressionistisch« erscheint dieses verinnerlichte Drama nach der Premiere dem »Darmstädter Echo«. »Egotrip« fühlt sich dagegen an die Form »antiker Tragödie« erinnert – einerseits durch die besondere Rolle des Chors, andererseits wegen der kommentierenden Stimme Antonia Beeskovs, ein episches Element nach Art des klassischen Botenberichts.
Referenzen an Theatergeschichte also allenthalben. Bis hin zu Rainer Nonnenmann, dem zur stumme Rolle von Otzes Vater (Martin Gerhardt) der Vater Hamlets einfällt. Nichts von alldem erscheint mir falsch.
»Die Epik geht auf Kosten der Dramatik« kritisiert gleichzeitig Nonnenmann. Wie immer man das Ganze auch wertet, sicherlich stimmt: Kaum fügt sich die Aufführung in den Rahmen konventioneller Dramatik. Was sonst auf dem Theater als psychologische Handlung erzählt wird, wird hier in eine Dramaturgie stehender Bilder gepackt.
Auch was die grundsätzliche Einordnung dieses Projekts betrifft, ist das »Darmstädter Echo« auf der richtigen Spur: »Der Begriff ›Oper‹ scheint uns trotz des Titels nicht passend«, heißt es hier. Nun ja, auch wenn als Referenz im Titel das Wort Oper erscheint, ging es nie darum, eine Oper zu liefern. Im Begriff »NOperas« steckt neben dem Wort »opera« schließlich auch das Wort »no«.
Gestern wurde in Deutschland gewählt. 47 von 50 Wahlkreisen im ehemaligen Staatsgebiet der DDR gingen an die AfD. Klang schon in »Wir sind das Volk« damals Völkisches mit? Provokativ und von Gelächter des Publikums begleitet deutet OPER OTZE AXT die Vereinigung beider deutscher Staaten als freiwillige Selbstauslieferung Ostdeutschlands für den Preis von Bananen und Begrüßungsgeld. Wie schnell geriet damals der »Runde Tisch« ins Abseits, der nach anderen Lösungen als schlichter Angliederung suchte. Wenn nicht als Oper, wie könnte man OPER OTZE AXT einordnen? Vielleicht als deutsch-deutsches Mysterienspiel um die Dialektik von Freiheit.
Westberlin 1987, Nähe Anhalter Bahnhof (© PD)
Für die Mitglieder der »Dritten Degeneration Ost« ist die Beschäftigung mit »Schleimkeim«, ihrem Frontmann Dieter »Otze« Ehrlich, und, genereller, mit der Punkbewegung der 1980er Jahre ein Abtauchen in den Bereich ferner Ereignisse. Für mich, der ich in dieser Zeit nach Westberlin zog, ist sie ein Eintauchen in wenig sortierte Erinnerung.
An der Fassade des Hauses im nördlichen Wedding, in dem ich zuerst wohnte, fanden sich noch Granateinschläge der 40er Jahre. »Nie wieder Krieg!« hatte es in Deutschland später geheißen, im Rahmen des sogenannten »Nato-Doppelbeschlusses« hatte SPD-Kanzler Schmidt kürzlich aber die Stationierung gegen den Osten gerichteter Mittelstreckenraketen durchgesetzt. Zusammen mit meiner Generation habe auch ich damals in der Überzeugung gelebt, die Welt könnte uns in jedem Moment neu, und diesmal endgültig, um die Ohren fliegen.
Gleichaltrige machten sich drüben jenseits der Mauser ähnliche Gedanken. Während man in den Kirchen dort aber Schwerter zu Pflugscharen schmiedete, hatten wir jüngeren Westberliner mit der Zukunft bereits abgeschlossen. Wir waren satte Kinder des Wirtschaftswunders. »No Future« aber konnte man an jeder zweiten Ecke lesen. Unüberwindbar war dieses seltsame Endzeitgefühl. Und wie schon einmal in den 1920ern: Berlin, wenn diesmal auch nur sein westlicher Teil, tanzte auf dem Vulkan. Es lohnte sich nicht, Gedanken an die Zukunft zu verschwenden. Möglichst viel wollten wir rausholen aus dem Hier und Jetzt.
Techno war am Entstehen in diesem Westberlin der mittleren 1980er Jahre. Punk, meine ich, spielte als Musikrichtung keine wirklich bedeutende Rolle mehr. Er war überholt und kommerziell vereinnahmt von Neuer Deutscher Welle. Er war weitergeführt und zu etwas anderem geworden in den Noise-Exzessen der Neubauten.
Und trotzdem war Punk nicht tot. Welcher der Einzelszenen mit ihren jeweiligen Dress-Codes man in Westberlin auch angehörte: trug man nicht schwarz, konnte man sicher sein, vom Türsteher jedes halbwegs angesagten Clubs abgewiesen zu werden. Eine Art Post-Punks waren die Schöneberger Goths und New Romantics, die ihre punkigen Schädel bei Szenefriseuren stylten und ihre vergoldeten Sicherheitsnadeln in teuren Modeläden kauften. Vor allem um »Wessis«, wie man sie in Berlin damals nannte, handelte es sich bei ihnen, zugezogen aus dem Bundesgebiet, um der Langeweile und verlogenen Idylle Westdeutschlands zu entgehen. Und es gab, wenn eher auch in anderer Gegend, immer noch die echten und richtigen Punks, geboren in Kreuzberg, Neukölln oder Siemensstadt. Selten waren sie viel älter als zwanzig. Unvermeidlich wurde man von ihnen angehauen (»He Alter, haste mal ne Mark?«), wenn man am Nollendorfplatz oder Kottbusser Tor aus der U-Bahn stieg.
Schon damals gab es in Westberlin eine Unzahl an Obdachlosen. Ich hatte mir zur Regel gemacht, wenigstens jedem Dritten, der die Hand aufmachte, etwas zu geben. Kein Punk aber hat von mir aber jemals auch nur einen Pfennig erhalten. Gab es zuhause da nicht eine Mutter, die ihnen gerne ein Brot geschmiert hätte? Für mich waren sie rotzige Schulschwänzer. Wenn ich ihnen erzählt hätte, dass ich mein Studium durch Nachtschicht am Fließband der Reinickendorfer Pizzafabrik finanziere, hätten sie mich nicht für einen lachhaften Idioten gehalten?
Dass es Punks auch im Osten nicht gab, fand ich auf blamable Weise heraus, als mir nach einem Ostberliner Opernbesuch nah dem Grenzübergang drei Punkerinnen begegneten. Ich hielt sie für Westberliner Touristen und versuchte zu kumpeln: »Bloß schnell wieder rüber: grau alles hier, wer hält das schon aus!« Ungewollt zeigte ich mich da als der überhebliche Typ Wessi, dem – nachdem dies Wort dann seine Bedeutung änderte – später der zunehmende Ärger der Ostdeutschen galt.
Ost-Punks und West-Punks, noch immer fällt es mir schwer, beide Bewegungen miteinander zu verbinden. Die einen rebellierten gegen Kapitalismus, die anderen gegen (real existierenden) Sozialismus. »Macht kaputt, was euch kaputt macht!« hatten schon in den 1970er Jahren »Ton Steine Scherben« gesungen. Was aber, wenn beide kaputt dann wären? Das »A« der Anarchisten zierte zumindest in Westberlin die Jacken vieler Punks. Gemeint damit war: »Soll jeder doch machen, was ihm gefällt!« Mir kam das schon damals als kindlich vereinfachtes Verständnis der politischen Idee von Anarchismus vor, die nicht »Keine Macht für niemand«, sondern gleiche Macht für alle erstrebt und in ein verpflichtungsreiches Gesellschaftssystem geteilter Verantwortung führt, das Lichtjahre von der Lebenshaltung des Punk entfernt ist. »Mach dich doch selbst kaputt!« sang einigermaßen folgerichtig fünf Jahre nach der deutsch-deutschen Vereinigung dann Otze Ehrlich. Ohne »No Future« konnte der Punk nicht Punk sein und so war das die einzige Konsequenz, die da noch blieb.
Foto 1: Antonia Beeskow (Sound Design, Performance), Richard Grimm (Komposition) Foto 2: Neil Valenta (Mus. Ltg.), Georg Festl (Bariton), Clara Kreuzkamp (Mezzo), Frieda Gawenda (Komposition, Gesang, Performance), Julia van der Horst (Dramaturgie-Assistenz), Romy Dins (Regie)
Die Geschichte der DDR-Punkband Schleimkeim und ihres Sängers und Gitarristen Dieter »Otze« Ehrlich inspiriert dieses Projekt des »Dritte Degeneration Ost«-Kollektivs.
Wie erklärt sich Ehrlichs eigener Untergang nach dem Untergang der DDR? Konnte er nicht umgehen mit der Freiheit, für die er vorher gekämpft hatte? War die Freiheit, die er erlangte, vielleicht nicht die, für die er gekämpft hatte? (Hatte er, auch das kann man fragen, überhaupt für etwas gekämpft?)
Auf die »blühenden Landschaften«, die Kohl 1990 für Gesamtdeutschlands Osten versprach, warten wir jedenfalls noch heute. Und nicht wenige von denen, die dort damals nach Freiheit schrien, sind heute dafür, sie wieder abzuschaffen.
Grundgedanke von OPER OTZE AXT bleibt, dass Ehrlichs Geschichte mehr erzählt als ein persönliches Schicksal, dass sie etwas zu tun hat mit heutigen Problemen des vereinten Deutschlands.
Darmstädter Proben beginnen im Januar.
Anfang Dezember jetzt schon: ausführliches Vorbereitungstreffen mit Gesangsensemble und musikalischer Leitung. Gespräche über feXm und NOperas!, über jeweils persönliche Perspektiven auf west- und ostdeutsche Geschichte, die sich je nach persönlicher Herkunft und Alter scheiden. Gespräche über Oper und Punk. Über Arbeitsweisen und musikalische Ansätze.
Die Komposition wird kollektiv verantwortet. Pluralistisch geht es auch auf vokaler Ebene zu: Opernstimmen (des Darmstädter Ensembles), »Natur-«Stimmen (der Performer:innen von DDO) und dazu die Gerätschaften von Antonia Beeskow, die den Gesang dann noch durch die elektronische Mangel dreht.
Erst vor kurzem wurde die Partitur endlich fertig. Manches in ihr bleibt skizziert bloß, soll frei und improvisatorisch gestaltet werden. Viel unterliegt im Probenprozess noch möglicher Änderung und Anpassung.
Viel weiter weg vom gewohnten Musiktheater-Betrieb kann man mit all dem nicht sein. So fordert das Projekt von den beteiligten Solist:innen ein erhebliches Maß an Experimentierfreude.
Mezzosopranistin Clara Kreuzkamp bringt Offenheit und Neugier mit. Georg Festl singt nicht nur Figaro und Leporello. Er ist daneben auch Rockgitarrist und bekennender AC/DC-Fan. Thomas (Tom) Mehnert bringt Erfahrung mit einem wilden Projekt der Münchener Biennale mit ein.
Alles läuft also hinaus auf den Nachmittag, als Kompositionsteam und Gesangsensemble gemeinsam dann in Klausur gehen. Für die »Dritte Degeneration Ost« und für OPER OTZE AXT ist das die mit einiger Nervosität erwartete Stunde Null.
Auf wie fruchtbaren Boden sind die Gespräche vom Vormittag gefallen?
Ausprobieren, was man mit der Stimme machen kann. Improvisatorisch. Ohne Noten. Durchaus – Frieda Gawenda übernimmt die Leitung – aber mit Plan.
Mikros werden verkabelt. Effektgeräte verschaltet. Dramaturgie und Regieteam verjagt und raus in den Schneeregen der Rheinebene geschickt.
Nico Sauer, Jasna Witkowski, Rosa Coppola (Darmstadt 1-2, Münster 3)
Was für Räume braucht das Theater?
Nico Sauers Projekt »Die Kantine« will Hinterbühne, Werkstätten und Verwaltungstrakt zur Bühne machen. All diese Orte, die dem Publikum sonst verborgen bleiben, mussten vom Produktionsteam im November jetzt selbst erst einmal erkundet werden.
Münsters wie Darmstadts alte Theaterbauten fielen im Krieg Luftangriffen zum Opfer. Beide heutigen Häuser sind Ikonen des Theaterbaus der Nachkriegszeit. Beide besitzen zwei Bühnen mit jeweils ähnlicher Zuschauerkapazität. Ansonsten aber könnten sie unterschiedlicher kaum sein.
Münsters neues Haus, bereits 1956 eröffnet, wurde an der Stelle des alten in den erhaltenen oder wieder zu errichtenden Baubestand der Altstadt gezwängt. Abseits der Bühne wandert man hier durch enge und verwinkelte Gänge. Auch für die Werkstätten gab es hier wenig Raum. Die heutigen befinden sich weit außerhalb des Theaters in einem Industriegebiet am Rand der Stadt.
Auf einer weiten Brachfläche, die der Krieg hinterlassen hatte, konnte sich dagegen Darmstadts Theater entfalten. Erst in den späten 1960er Jahren, mitten also im »Wirtschaftswunder« wurde es gebaut. Nicht nur viel Raum stand zur Verfügung, sondern auch beträchtlich mehr an Finanzkraft. Schon der weitläufige Vorplatz (ich kenne kein Theater, das einen größeren hätte) demonstriert, wie großzügig man hier planen konnte. Großräumig und weitläufig geht es hier auch hinter der Bühne zu. Entsprechend unterschiedlich können auch beide Varianten dieses NOperas!-Projekts nur werden. Wird »Die Kantine« in Münster ohne Einbeziehung der Werkstätten auskommen müssen?
Anders als der späte Theaterneubau in Darmstadt standen diejenigen der 1950er Jahre noch unter der Idee eines Neuanfangs, der nach dem Ende der Hitlerjahre mit auch als künstlerischer gedacht war. Dabei besann man sich zurück auf die Jahre der Vorkriegsavantgarde. Bevor Werner Ruhnau sich wenig später mit dem Entwurf von Gelsenkirchens neuem Musiktheater auf weit größerem Stadtraum dann ausleben konnte, schuf er auch schon in Münster neben der großen Bühne ein »kleines Haus«, das auf flexible Bestuhlung hin konzipiert war und partizipativere Formen als die des bürgerlichen Guckkastentheaters ermöglichte. Ähnlicher Inspiration folgte zur selben Zeit auch Mannheims neues Theater, wo großes und flexibel angelegtes kleines Haus darüber hinaus auch zur Einheit einer großen Arena verbunden werden konnten, auf die das Publikum von zwei Seiten her blickt.
Heute sind beide Mannheimer Bühnen längst fix durch eine nachträglich eingezogene Mauer getrennt. Einer flexiblen Nutzung der in den 1950er Jahren variabel gebauten »zweiten« Spielstätten dagegen steht überall der Repertoirebetrieb entgegen – zu groß wäre der Aufwand, gemeinsam mit der Bühne je nach Aufführung Abend für Abend auch den Zuschauerbereich mit umbauen.
Viele Theatermacher:innen suchen indessen heute nach immersiven Formen, die das Publikum ins Theatergeschehen mit einbeziehen. Wo man es mit einem herkömmlichen Bühnenraum zu tun hat, werden Ränge und Zuschauerraum zu zusätzlichen Spielflächen, das Publikum wird herausgerissen aus der vermeintlichen Sicherheit einer Position, die sich allein aufs Betrachten beschränkt. (So geschehen etwa beim NOperas!-Projekt »Kitesh«, wo der Zuschauerraum gar zur Spielfläche eines bewaffneten Überfalls wurde.)
Oder man geht, wie Nico Sauer, noch einen Schritt weiter – man dreht die Situation einfach um, bespielt nicht mehr die Bühne, sondern ihren Außenraum.
So oder so spielt man dabei an gegen die Stein gewordene Idee bürgerlichen Illusionstheaters, das kaum mehr den Herausforderungen unserer Realität entspricht.
Etliche der nach 1945 errichteten Gebäude sind heute Sanierungsfälle. In die Köpfe der Stadtverantwortlichen ist indessen das Theater des 19. Jahrhunderts zurückgekehrt. Statt das Theater von heute und morgen zu bauen, wird überall gerade das von gestern restauriert. Dabei werden Chancen vertan, die es nur alle siebzig Jahre mal gibt.
31.10. – Bauprobe »OPER OTZE AXT« in Unterkassel. Unten: Im Mittelgrund links Markus Pockrand), rechts Bernd Klein (technische Leiter Theater Bremen und Staatstheater Darmstadt). © Roland Quitt
Auf einer Bauprobe wird der Entwurf eines Bühnenbilds geprüft, bevor er in den Werkstätten dann in Fertigung geht. Neben technischen Lösungen geht es auch um Raumwirkung und Sichtlinien. Bauteile werden mit improvisierten Mitteln angedeutet. Ort ist normalerweise die Bühne, auf der das betreffende Stück dann später zur Aufführung kommt.
Bauproben im Rahmen von »NOperas!« sind ein besonderer Fall. Sie finden am erstproduzierenden Haus statt. Der Entwurf muss variabel genug sein, um den räumlichen Verhältnissen aller Theater angepasst werden zu können. Zur Orientierung reisen auch Abteilungen der anderen Häuser mit an. Falls nicht zu viele Probleme auftreten, herrscht die gehobene Stimmung einer Fachkonferenz. Für die technischen Abteilungen ist es die rare Situation von Begegnung und Austausch mit Kollegen gleicher Zunft. Oft ergeben sich Synergien. Was fürs eine Haus schwierig ist, kann das andere leisten. Man reicht sich in technischen Fragen die Hand.
Eine besondere unter diesen besonderen Bauproben war die von OPER ATZE AXT, nicht in Darmstadt, Bremen oder Gelsenkirchen, sondern – in einer Fabrikhalle in Unterkassel. »Zieht euch warm an, der Ort ist unbeheizt«, mailte Produktionsleiterin Anne Bickert. Von der Kasseler Straßenbahnhaltestelle mit dem trügerischen Namen »Katzensprung« bleibt es ein längerer Marsch durch Industriegebiet dann bis zum Firmengelände der Hafenstraße 76. Gemütlich ist es da nicht, aber wärmenden Kaffee kriegt man im 300 Meter entfernten OBI-Markt. Vom OBI-Bäcker, der Weihnachtswahn hat begonnen, hat jemand auch vorweihnachtliche Makronen mitgebracht. Sie bleiben liegen, nachdem ein OBI-Witz betreffend Makronen und Sägespäne gefallen ist.
Fabrikhalle statt Bühne also. Und anders als sonst auch auf Bauproben: nichts wird improvisatorisch hier angedeutet, alles steht bereits fertig da: die finalen Bauteile, professionell verschraubt und verschweißt von den Leuten des RHO-Kollektivs. Als Bauprobe, »die keine war«, bezeichnet sie mit Ironie in der Stimme am Telefon später Brigitte, Bremens Operndirektorin.
RHO, nicht nur künstlerisch, sondern in diesem besonderen Fall eben auch baulich für die Bühne verantwortlich, kooperieren in OPER OTZE AXT mit »Dritte Generation Ost«, man könnte sagen: bilden ein »Subkollektiv« der DDO-Leute.
Über mehrere Wochen haben RHO in Unterkassel mit teils kostengünstig, teils kostenlos erworbenem industriellem Ausschussmaterial gearbeitet, sich vom dabei Aufgetriebenen inspirieren lassen, es experimentierend auf verschiedenste Weisen zusammengebaut, wieder auseinandergenommen, neu zusammengesetzt. Drei Objekte sind dabei entstanden: auf Rollen gesetzte Kammern, die ihre Herkunft aus Schrott nicht zu vertuschen zu versuchen, sondern geradezu ausstellen. Sie ruhen auf ausgemusterten Bühnenwägen, die das Staatstheater Kassel stiftete, so dass neben Darmstadt, Bremen und Gelsenkirchen unter der Hand also ein weiteres Theater zu dieser Produktion nun mit beiträgt.
Für die Leute von RHO, die künstlerisch sonst im Bereich von Ausstellung und Installation arbeiten, ist die DDO-Kooperation die erste Begegnung mit dem Feld des Theaters. Ihre Arbeit muss sich in Kassel nun den Häusern, vor allem dabei deren Sicherheitsbestimmungen, stellen.
Ungewohnt ist die Begegnung auch für die Theater. Dies oder jenes müsste noch zusätzlich verschweißt werden, ansonsten fällt für die Werkstätten kaum eigene Arbeit an. Trotzdem, vieles hier trifft sich mit aktuellen Tendenzen im Bereich der Performing Arts, übersetzt sie vom Gebiet der Bühnenaktion sozusagen in den Bereich der Bühnenplastik: Ein klassischer philosophischer Versuch, das Schöne zu definieren, verbindet sich damit, seinen besonderen Nutzen abzuheben von jeglichem Nutzen innerhalb der Kategorien praktischen Verwertbarkeitsdenkens. Das auf praktischer Ebene Nicht-mehr-Nützliche, dem die Wegwerfgesellschaft in ihrem Zwang zu immer beschleunigterer Produktion immer beschleunigter auch das Müllplatz-Etikett »nutzlos geworden« aufklebt, hier erscheint es entsprechend solcher Definition zu Schönem geadelt.
Analog zu der Weise, wie den Projekten von »NOperas!« im Szenischen wie Musikalischen gewöhnlich kein genau definierter Plan mehr vorausgeht, der im Probenprozess dann nur noch »auszuführen« wäre, so geht auch dieser Bühne kein Plan auf Papier mehr voraus. Wie also Theaterproben im Rahmen von »NOperas!« dem behutsam experimentierenden Prozess einer Stückfindung dienen, bei der die beteiligten Performer sich wesentlich mit einbringen, so wurde auch hier am Material selber erprobt und entwickelt. Beides trifft sich mit der Idee eines Theaters, das nicht mehr allein Illusion und also idealisiertes Gegenbild zu wirklicher Welt sein will. Wie der Performer sich als der, der er ist, dabei nicht mehr hinter Schminke und Maske verbirgt, seinen Beruf nicht mehr allein in »so tun als ab« begreift, will auch diese Bühne nicht als Attrappe eines anderen mehr gelesen werden, sondern als Darsteller ihrer selbst.
© Chat GPT 4.0, gen. v. Nico Sauer
Mit dem Ende seines zweiten Dreijahresturnus wird »NOperas!« kommendes Jahr in die dritte Runde treten – und begegnet dabei schwierigen Zeiten!
Kultur ist in Deutschland als keines der Staatsziele verankert. Für ein Gros der Politiker ist sie ein Nice-to-have, auf das man ohne viel Aufhebens verzichten kann, wenn der Gürtel mal enger geschnallt werden muss. Besonders hart trifft es im Rahmen derzeitiger Haushaltspläne die Schwachen, denen institutioneller Schutz fehlt und deren Kunst zu neu und ungebärdig ist, um Staat, Stadt oder Land zu Repräsentationszwecken dienen zu können: Willkommen in der Freien Szene!
Noch schwieriger wird es nun werden fürs freie Musiktheater, dessen Existenz als ein Kunstbereich mit eigenen Formen man selbst Kulturpolitikern immer neu erklären muss. Anders als etwa in Belgien und den Niederlanden gibt es für seine Kunst keine eigenen Mittel – innerhalb der Institutionen des Fördersystems konkurriert sie zum einen mit dem Feld von Musik, zum anderen mit Performance, Schauspiel und Tanz, ist freilich meist kostenaufwendiger als diese und zieht bei der Mittelvergabe so oftmals den Kürzeren. Im Rahmen der geplanten Beschneidung von Mitteln des »Musikfonds« und des »Fonds Darstellende Künste« verliert sie nun noch weiter an Land.
Der »Fonds Experimentelles Musiktheater« wurde geschaffen als Initiative, die sich zunächst und vor allem aufs Stadttheater richtet und einer zeitgemäßen Erweiterung seiner Musiktheater-Spielpläne gilt. Seit Einrichtung des NOperas!-Programms leistet er in solcher Richtung noch wertvollere Dienste: gleich mehrere Häuser können sich beteiligen, die Tür hierzu steht prinzipiell jedem Theater offen. Auch freiem Musiktheater aber dient er. Ziel ist, die neueren Formen der Freien ins Stadttheater zu holen und die ästhetische Kluft zu schließen, die beide bis heute voneinander trennt.
Nur eine Produktion kann mit den vorhandenen Mitteln je Spielzeit aber realisiert werden. Für die Theater ist das bereits einiges. Für die Vielzahl an Akteurinnen und Akteuren freien Musiktheaters, die um diese Produktion jährlich konkurrieren, erscheint es zunächst wenig. Immerhin aber, es ist doch mehr als nichts. Teams finden beim feXm darüber hinaus Bedingungen zu einem prozessualen und auf Nachhaltigkeit angelegten Arbeiten vor, von denen sie woanders nur träumen können. In diesen schlechten Zeiten bietet der feXm der Szene so noch wichtiger gewordenen Halt.
Bremen, das gleich über 2 x 3 Jahre dabei war, scheidet aus NOperas! ab kommendem Herbst aus. Nach 1 x 3 Jahren wird auch Gelsenkirchen (Intendant Michael Schulz wechselt nach Saarbrücken) nicht mehr dabei sein. Darmstadt beginnt seine zweiten drei Jahre. Neu als Partner hinzu tritt das Theater Münster.
Unter 40 Bewerbungen für die Saison 2025/26 bestimmte die Jury zunächst fünf Finalisten, in Wuppertal stellten sich diese dann einem vertiefenden Gespräch. Gern hätte man mindestens zweien der präsentierten Konzepte zur Realisierung verholfen. Den Zuschlag erhielt »Die Kantine« vom Team um Nico Sauer. Mutig verständigten sich auch die beteiligten Häuser damit auf ein Projekt, das stark mit eingeübter Routine bricht und ihren Betrieb vor Herausforderungen stellt.
Ein Vergleich bisheriger NOperas!-Produktionen zeigt: ganz unterschiedliche Wege führen im Musiktheater heute hinaus über die Opernform. Die ersten, die in den 1960er Jahren ein Musiktheater jenseits der Oper begründeten, kamen von musikalischer Seite. Es handelte sich um Komponisten, die nach einer »visible music« strebten und ihr Material vom Auditiven ins Visuelle erweiterten. Das »Komponistentheater« jener Jahre führt über verzweigte Weiterentwicklung bis hin zu Multimedia-Künstlern wie Nico Sauer, der sich gleichzeitig als Komponist, Autor und Theatermacher begreift.
»NOperas!« befand sich noch in Geburtswehen als 2019 COVID ausbrach. Die Pforten des Häuser waren geschlossen, das Theater suchte Auswege im Niemandsland des Digitalen und – da ihm ein erkennbares Gegenüber fehlte – in einer Beschäftigung mit sich selbst. Die Problematisierung von Hierarchien und Machtstrukturen im eigenen Arbeitsfeld hat die Bühne seitdem nicht mehr losgelassen. Auch in diesem Projekt, sein Titel deutet es an, kreist Theater um Theater. Die verspielte Offenlegung seiner arbeitsteiligen Illusionsmaschinerie bei einem Blick hinter die Kulissen, der seinerseits als Theater und also als manipulierter erscheint, wirft Fragen zum Verhältnis von Kunst und Realität und zur immer komplizierter gewordenen Suche nach Wahrheit auf, die uns auf längere Zeit weiter beschäftigen werden.
Berlin, Sonnenallee (Foto: Anne Inken Bickert)
Es ist ein nassgrauer Tag im September.
Durch den Spalt eines geöffneten Fensters dringt Straßenlärm von der Sonnenallee. Bauarbeiten. Sirenen.
Es ist neun Uhr morgens, als ich anfange.
Vor mir, mein Laptop.
Das immerwährende Klacken der Computertastatur verleiht meiner Arbeit einen Rhythmus. E-Mails fluten das Postfach.
Nachricht aus Gelsenkirchen.
Nachricht aus Darmstadt.
Antworten auf Nachrichten von Vorgestern.
Ping!
DM vom RHO-Kollektiv. Frage, ob noch weitere Ausgaben für Stahl getätigt werden können.
Roland ruft an. Wir tauschen uns über den aktuellen Stand des Projekts aus.
Mittagessen.
Wieder am Laptop.
Im Hintergrund läuft das Demotape des ersten Aktes.
DDR-Nostalgie und Lärm vermischen sich in meinem Zimmer zu einem eigenartig schönen Klangteppich.
Geld fließt von einem Konto auf ein anderes und saust als unsichtbarer Schatten über Ländergrenzen hinweg zu unserem Komponist.
Mehr E-Mails. Mehr Anrufe.
Am Abend ein Zoomcall mit dem Kollektiv.
Mikrofone rauschen, die Verbindung ist schlecht, Kronkorken werden geöffnet.
Zischen.
Der Call dauert wieder länger als erwartet und alle reden durcheinander.
Eine Polyphonie verschiedener Stimmen entsteht.
Ein bisschen wie bei einer Oper.
Technische Nabelschau: neben Aufzugstüren und dem Rauschen der Heizungsrohre wird das Sickern von Wasser-Rinnsalen mittels Kontaktmikrofonen eingefangen. (Foto: Antonia Beeskow)
In der ersten Augustwoche traf sich das Team der neuen Opernproduktion »OPER OTZE AXT« in Berlin mit Schwerpunkt auf Komposition und Libretto. Für fünf Tage konzentrierten wir uns auf Chorpartien, Konzepte, Rauschfrequenzen und die Frage, wie sich die Hauptfigur Otze in dem Stück singend hörbar macht, wenn doch eigentlich dessen musikalische Freiheit erst in der Negation konventioneller Mittel liegt? Sind die klanglichen Elemente aus dem metallischen Resonanzen eines Abflussrohrs, Mittelwellen-Radiofrequenzen, alten Stasiprotokoll-Aufzeichnungen, die wir gleichwertig musikalisch nutzen, eine Möglichkeit Themenkomplexe wie Propaganda, Macht oder auch körperlich-mentale Desorientierung zu behandeln, ohne direkt darüber zu sprechen? Während einer konzeptuellen Probe dachte ich über das Bild des Hundes Nipper vor dem Grammophontrichter nach – »His Master’s Voice«. Eigentlich ist das ikonische Bild Ausdruck von Qualität und Klarheit des Schallplattenklangs, sodass selbst ein Hund die künstlich-körperlose Stimme seiner geliebten Bezugsperson nicht unterscheiden kann von der echten. Wir haben diskutiert, ob die Verbreitung einer Ideologie, aber auch eines fixen Gedankens, sich letztlich im Gehörten niederschlägt und dort bleibt, ähnlich wie ein Ohrwurm, der dich nicht mehr loslässt.
Das Kompositionsteam von OPER OTZE AXT besteht aus dem slowakischen Komponisten
Richard Grimm, der für die Niederschrift der kompositorischen Entwürfe maßgeblich verantwortlich ist, sowie Mathias Baresel, Frieda Gawenda und – hier schreibend, Antonia Beeskow. Wir letzten drei werden auch als Sänger:innen und Darsteller:innen in den Inszenierungen später auftreten. Ich konzentriere mich bei der Inszenierung auf das Sounddesign und den Übergang von Mikrofonierung zu akusmatischem Experiment und Lautsprechermusik. Für manche Szenen wünsche ich mir aber auch eine Art Verschmelzung zwischen klassischer Kompositionsform und Livesounddesign und -bearbeitung. In den letzten Tagen habe ich nach Klängen gesucht, welche später als Texturen oder Samples durch das Orchester oder die Sänger:innen getriggert werden könnten. Dabei habe ich an dem Ort, an dem wir auch geprobt haben, einige Feldaufnahmen gemacht: Metallene Streben, ein Waschbecken, den Resonanzkörper eines Fahrstuhls oder das langsame Sickern von Wasser in einem Waschtrog mit Kontaktmikrofonen abgenommen. Mich interessiert einerseits der Perspektivwechsel, das Unbekannte im Klang, das Harte und Kühle der Materialien. Andererseits hoffe ich, dass wir so ein Klangspektrum auffächern, das irritiert: zwischen Holz, Metall, Harmonie und Rauschen entstehen Kontraste, Schatten und (un-)hörbare Frequenzen. Vielleicht spiegelt die Übertragung von Streichquartett zu Granularsynthese sich wider mit dem dramatischen Verlauf der Geschichte, die wir erzählen wollen.
»Antifaschistisches Schutzgitter vor deutschem Theaterwald. Eingeschlossen dazwischen: Nostalgischer Zigarettenautomat, den leider nun doch niemand zu sehen bekommt. Wurde doch ›Zigarette‹ auf diesen Dingern auch in den 1970er Jahren noch immer altertümlich mit ›C‹ geschrieben!« © Dritte Degeneration Ost
Es ist Frühsommer. Die Mannschaft (Mathias, Frieda, Antonia als geballte Kompositionskompetenz; Frithjof und Romy aus der Schreibtisch-Ecke) erreicht Donnerstagnacht in sternenzügiger Anfahrt Kassel. Dank der Kooperation mit dem RHO-Kollektiv stehen uns hier nicht nur eine Lagerhalle, sondern auch ein leerstehendes Bürogebäude zur Verfügung, wovon eines mit Betten, das andere mit Bühnen- und Bauobjekten gefüllt ist. In dem von der Stadt als Zwischenraumnutzung für u. a. die documenta genutzten Objekt arbeitet RHO für die Produktion. Auf dem Boden sind mit Kreide die ungefähren Bühnendimensionen eingezeichnet. Rollhunde, Baumaterialien und Werkzeuge ergänzen die Situation. So arbeitet das Bühnenbild-Team: Statt auf Papier werden Ideen direkt baulich umgesetzt. Für uns eine willkommene Abwechslung zur gesprächs- und kopflastigen Text- und Konzeptionsarbeit.
Mehrere Objekte, Kuben auf Rollen, werden von Laurenz und dem RHO-Kollektiv präsentiert: Metallgitter ersetzten die Zimmerwände und Grenzmauern. 90% des deutsch-deutschen antifaschistischen Schutzwalls bestanden aus eben jenen Metallgitterzäunen, wird uns gesagt. Es hatte also tatsächlich niemand die Absicht, eine Mauer zu bauen. Der antifaschistische Gartenzaun. Daneben ein 70er Jahre westdeutscher Zigarettenautomat. Ist das die Allegorie der Freiheit?
Die einzelnen »Skulpturen« bekommen Namen. Die »Dieter«-Skulptur und die »Otze«-Skulptur. Noch eine dritte für die Staatssicherheit. Dank der baulichen Arbeit lässt sich leicht über das Gesehene sprechen. Wir tauschen Ideen aus. Es gibt Sorgen betreffend der Modulhaftigkeit der Objekte. Wo führen Kabel lang? Welche Leuchtmittel müssen wie platziert werden? Dank der räumlichen, wie technischen Entscheidungen, die wir in diesem Zuge treffen konnten, bekommt die Arbeit der anderen Gewerke nicht nur räumliche, sondern auch inhaltliche Struktur. Der Wunsch eines »osmotischen Arbeitens«, in dem Setzungen und Wünsche Einzelner, immer wieder Fragen und Unsicherheiten an anderer Stelle beantworten können, scheint zu greifen.
Die Stahlgitter werden mikrofoniert und schon sind wir im Musiktheater. Wir erklettern eine »AMPore«, stellen die Skulpturen in allen möglichen Konstellationen umher, befragen die Räumlichkeiten, die unser Held durchqueren wird: im Zuhause, im Betrieb, im Käfig, im Schweinestall. Lange und ermüdende Diskussionen im Team um den Zigarettenautomat. Zuletzt herrscht Konsens: besser, wir lassen ihn »sterben«.
Aufs Signal einer Sirene hin öffnet sich ein Tor, in Trance bewegen sich die Eloi in den dahinter verborgenen Schlund, wo sie von den Morlocks verspeist werden. Verspeist wird in Darmstadt niemand, aber die Szenerie ist ähnlich wie in George Pals »Time Machine« (1960), als sich nach längerer Zeit im Zuschauerraum der Eiserne hebt und das Publikum seine Wanderung in die Tiefe des Bühnenraums antritt.
Mit der Premiere am Staatstheater Darmstadt kommt die dritte Etappe von »Freedom Collective« zum Abschluss. Dem Anspruch von NOperas! folgend hat sich auch diese Produktion auf ihrem Weg »weiterentwickelt«. Schon die Unterschiedlichkeit der drei Bühnen verlangte bei jeder ein anderes Raumkonzept.
Weitergekommen erscheint mir das Projekt nun auch in der Auseinandersetzung mit dem, was früh sich als eine Art Grundkonflikt abzeichnete: Mit seiner Vertonung einer komplexen Erzählhandlung gehört »Freedom Collective« textlich und musikalisch dem Genre zeitgenössischer Oper an, auf Ebene der Bühnenaktion dagegen zielte das Regieteam auf ein dezidiert »postnarratives« Theater, das der Oper eher fernsteht. Was für ein Theater ließ sich nun in der Rückschau aus so gegenläufigen Ansätzen schaffen?
Um das Wichtigste noch einmal zu rekapitulieren: Nicht der Underground-Club, von dem das Libretto erzählt, findet sich auf der Bühne dargestellt, sondern eine Gaming-Situation. Die Performer agieren als Spielende, welche die Libretto-Figuren als Avatare führen. Weitgehend befreit sich die Aufführung so vom herkömmlichen Prinzip einer genaueren Nachzeichnung der in Libretto und Musik angelegten Erzählung. Minutiös wurde trotzdem in Gelsenkirchen zunächst noch jedes gesungene Wort übertitelt. Wer dies zum Aufhänger nahm, all den Konflikten um Drogen, Boxen und Queerness folgen zu wollen, von denen die Handlung erzählt, fand wenig Unterstützung im Bühnengeschehen und konnte am Ende nur scheitern. In Bremen wurde hieraus zunächst die Konsequenz gezogen, ganz auf Übertitel zu verzichten. Noch mehr trat das Narrativ so in den Hintergrund. Und klammert sich die Partitur auch an die differenzierte klangliche Umsetzung jedes Handlungsdetails, so erschien sie in ihrer Wirkungsweise stärker nun noch als in Gelsenkirchen reduziert auf den Charakter einer berauschenden Klangkulisse aus Gesangsstimmen und Orchesterfarben. Wie auch auf anderen Ebenen der Aufführung ging es dabei weit mehr um »Eintauchen« als Verstehen.
Zwischen Erzählen und Nichterzählen, den widerstreitenden Polen dieser Produktion, erscheint mir in Darmstadt nun ein Gleichgewicht gefunden, das die Widersprüche antagonierender Ansätze nicht aufhebt, aber gegeneinander austariert und auf diese Weise eine produktive Spannung schafft. Zurück sind die Übertitel, großzügiger aber sind sie gesetzt, nicht mehr hangeln sie sich im Sekundentakt an jedem Librettowort entlang. Die Musik – sicher keine leichte Entscheidung – ist um mehrere Passagen gekürzt, wodurch sich die Aufführung vom Ballast einiger peripherer und innerhalb dieses Theaters, das weniger erzählen als einfangen will, kaum transportabler Inhalte befreit. Im Gegenzug verschmelzen die Gamerinnen und Gamer etwas mehr nun mit ihren Avataren, stärker überträgt sich so Opernhandlung auf sie. Man weiß in Darmstadt nicht, wo man eigentlich ist, im Computerspiel oder doch im Underground-Club und diese Unsicherheit überträgt sich auf den Besucher nicht als Manko, sondern als Unentwirrbarkeit gleichzeitiger Realitätsebenen.
Wie an den vorigen Theatern wird »Freedom Collective« in Darmstadt unter dem Label »immersives Musiktheater« geführt. Schon in der damaligen Projektbewerbung war solch ein Anspruch geltend gemacht: Theaterbesucher sollten nicht Betrachter:innen des Bühnengeschehens, sondern Teil von ihm werden. Vor allem auf Aufhebung der Trennung von Bühne und Zuschauerraum hat die Regie dabei gesetzt. Die Akteure sollten sich mitten im Publikum befinden und dieses sollte sich selber dabei frei bewegen können. Diesem Ansatz stellen sich im großen Haus Darmstadts nun Sicherheitsbestimmungen entgegen. Früh ist im Fortgang des Projekts dabei jener Teil des Konzepts in den Hintergrund gerückt, der Immersion auf ganz andere Weise versprach. Theater sollte um neue Medien erweitert werden, wesentliche inhaltliche Ergänzungen sollten während der Aufführung auf einer Handy-App abrufbar sein. Viel Arbeit wurde in diese App gesteckt, die eigens für diese Produktion vom Experimentalstudio des SWR entwickelt wurde. Dennoch fehlte es ihr am Ende an Flexibilität, um vielfältiger eingesetzt werden zu können und zuletzt viel mehr als ein Gadget zu sein, das wenig Einfluss auf Dramaturgie und Wahrnehmung der Aufführung ausübte.
Wieviel also bleibt in Darmstadt dann immer noch »immersiv«? Ein Parcours führt das Publikum vom Foyer zunächst vor den verschlossenen Eisernen und von dort aus später auf die Bühne mit nun umgekehrtem Blick ins Parkett – kein ganz neuer Effekt, immer noch ein effektvoller zur Hinterfragung des Theaters als Illusionsmaschinerie. Von diesem Moment an, drei viertel der Aufführung liegen noch vor uns, wird »Freedom Collective« zu veritablem Guckkastentheater. Stünde es nicht anders auch auf dem Programmzettel – so what? wollte man fragen. Verfeinert hat sich gegenüber früheren Etappen die Figurenführung; wirkungsvoll wird mit der Tiefe des Raums gespielt; die 3D-Animationen erscheinen auf effektive Weise um zusätzliches Material erweitert; eine ausgefuchste Lichtregie setzt an der Musik orientierte Zäsuren und Darmstadts Beleuchtungsabteilung darf mit allem funkeln, was so ein Haus an Lichttechnik hat. Das Publikum erscheint erscheint nach Ende der Vorstellung angetan. Stirnrunzeln dann bei den Premierengesprächen aber im Bezug auf die Handys. Durch die Erwartung, die hier geschürt, aber doch kaum erfüllt wurde, fühlt sich mancher doch etwas gefoppt. Hätte man sich entscheiden sollen, die Handys zuletzt rauszuschmeißen? Wenig wäre dann allerdings noch übrig gewesen von jenem Konzept, dem die NOperas!-Jury den Zuschlag gab.
Bevor nun in der FAZ mit einiger Verspätung eine positive Kritik erschien, meinte es die Presse mit der Aufführung nicht gut. Anders als Helga und Horst versuchen sich Kritikerinnen und Kritiker vor dem Vorstellungsbesuch genauestens zu informieren, lesen Erläuterungen des Librettoinhalts, lesen auch das Zauberwort »immersiv«. Sie finden in der Aufführung kaum genug von beidem und fehlgeleitet in ihren Kriterien machen sie dann ihre Rechnung auf. Sofern der Fonds Experimentelles Musiktheater seinen Namen aber zu Recht trägt, ist das Ende immer offen. Wo immer es darum geht, »Stückentwicklung« zu ermöglichen, laufen Vorankündigungen das Risiko, dass alles ganz anders ausgeht, als es zuerst avisiert war. Vieles an Ankündigungen zu »Freedom Collective« ist lang schon in Jahresheften veröffentlicht. Anderes, das bis zuletzt falsche Erwartungen schürte, hätte sich doch aber vermeiden lassen – wohl müssen wir hier in Zukunft vorsichtiger sein.
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