Jasons Schreibtisch © Hiatus
Fundstadt geht in den Endspurt. Als eine »urbane Topographie zweier Städte aus der Perspektive von Kindern aus sozial unterschiedlichen Verhältnissen« hat das Produktionsteam dieses Projekt bei der Bewerbung damals beschrieben. Mit jeweils drei Kindern aus Gelsenkirchen und Bremen wurde und wird weiterhin intensiv künstlerisch gearbeitet. Sie alle haben inzwischen ihr eigenes mit wesenhaften Zügen ausgestattetes »Ding« erfunden, das ihren Angaben gemäß in den Werkstätten nun gebaut wird. Sie alle haben gemeinsam mit musikalischen Pat:innen aus den jeweiligen Orchestern darüber hinaus das ihrem Ding zugeordnete »Dinglied« komponiert, das von Instrumentalist:innen der Orchester in unterschiedlichen kammermusikalischen Besetzungen nun als Tonaufnahme eingespielt wird. Jedem der Kinder wird auf dem Weg, den das Publikum zurückzulegen hat, eine eigene Station gewidmet sein. Die sechs Kinder selbst, ihre Dinge und Dinglieder werden Bestandteile des digitalen Geschehens sein, man via Tablets an diesen Stationen für sich abruft. Begegnen wird man unterwegs immer wieder auch musiktheatralen Live-Aktionen, für die sich weitere Kinder und weitere Orchestermusiker:innen zusammengefunden haben. Eines der sechs Filmkinder ist Jason. Folgende Mail schrieben Hiatus an die Gelsenkirchener Interpret:innen seines Dinglieds:
»Liebe Mariana Hernández González,
lieber Istvan Karacsonyi, Gioele Coco, Rainer Nörenberg, Uwe Rebers,
ihr seid das DINGLied-Ensemble von Jason, wir freuen uns, Euch erleben zu dürfen! Jasons Wesen ist ein Geschöpf von einem anderen Planeten, der aus rotem Sand besteht. Es hat vier Hände, zwei menschliche, zwei Krebsscheren, und auf dem Kopf trägt er nochmals Knochen, um vor Angriffen geschützt zu sein. Es kann Wände hochgehen und kopfüber an der Decke laufen, es kann sich groß und klein machen, Blitze schießen. Es isst am liebsten stinkende Socken. Im Film erschafft Jason quasi seine eigene Welt. Er beginnt in einem leeren weißen Raum und richtet seinen Arbeitsplatz in einer Garage ein, baut sein eigenes Sonnensystem. Eines Tages kommt er zurück zu seinem Atelier in der Garage und findet es verwandelt vor. Dort erscheint ihm sein Wesen. Jason weiß nicht, ob sich seine Welt in seiner Abwesenheit selber weitergebaut hat und so das Wesen entstanden ist, oder ob das Wesen heimlich weitergebaut hat. In dem letzten Musiktreffen mit Jason haben wir mit Hilfe von Jasons fantastischen »Musik-Paten« Istvan Karacsonyi den Grund für Jasons DINGLied gelegt. Mit den neun Planeten unseres Sonnensystems hat Jason Musik-Patterns erfunden. Außerdem gibt es Vertonungen von Istvan von den Superkräften des Wesens (Bsp. siehe Anhang). Die Musik wird sich analog zu Jasons Filmgeschichte nach und nach aufbauen.«
Zu Jasons Dinglied hat Duri Collenberg eine Spielpartitur entwickelt, deren unterschiedliche Stimmen dem Schreiben angehängt sind – untenstehend hier: die Noten der 1. Oboe.
Stills aus der Filmversion der Kurzoper »Xinsheng« (Regie: Heinrich Horwitz)
Bereits seit Oktober steht das Projekt für die Spielzeit 2023/24 fest, jetzt endlich nun auch sein definitiver Titel – »Freedom Collective«. Seit Dezember entsteht der genauere Handlungsentwurf. Für seine kompositorische Vorstudie (noch unter dem Titel »XinSheng«) erhielt Davor Vincze gemeinsam mit Rama Gottfried und Andrés Nuño de Buen am vergangenen Wochenende nun den jährlich vergebenen renommierten Stuttgarter Kompositionspreis. Mehr als 150 Kompositionen waren als Bewerbungen eingereicht worden. Die drei Preisträgerstücke, die beim Abschlusskonzert des Stuttgarter Eclat-Festivals zur Uraufführung kamen, hätten unterschiedlicher kaum sein können – Nuño de Buens Gitarrenquartett: sparsam, zurückgenommen, fast schon hermetisch; Gottfrieds »Scenes from the Plastisphere«: verspielt und offen in der Form; »Xinsheng«: kulinarisch, raffiniert, mit klanglicher Delikatesse und großer Geste, die sich des Opernhaften nicht scheut. Das Ensemble Mosaik spielte in der Besetzung Klarinette, Cello, Keyboard, Schlagzeug und (ja, dieses Instrument gibt es wirklich:) E-Zither; Nina Guo sang. Reichlicher Applaus im ausverkauften Saal. Wir erwarten mit Spannung den weiteren Fortgang.
Duri Collenberg, Ali (© Uta Plate)
Musiktheatersparten sind hochspezialisierte Betriebe, eingerichtet in all ihren Abläufen auf die klassische Opernform. Jede NOperas!-Produktion sorgt da erst mal für Herausforderungen und am schwierigsten können die werden, wenn sie das Orchester betreffen. Kinder sollen in »Fundstadt« gemeinsam mit Orchestermusiker*innen Kompositionen erarbeiten, morgens aber sind Kinder in der Schule, abends schlafen sie, nachmittags hingegen, so will es die Gewerkschaft, dürfen Musikerinnen und Musiker, selbst wenn sie wollten, nicht zur Arbeit herangezogen werden. Nach längerem Tauziehen ist nun auch dieses Problem vom Tisch. Auch stehen nun die Mitwirkenden beider Orchester.
Während zweier Workshops in Gelsenkirchen und Bremen rekrutierten HIATUS schon im vergangenen Jahr die sechs Kinder, um deren Leben, Träume, Hoffnungen und selbstkomponierte Orchestermusik sich »Fundstadt« dreht. Während an der Theateraktion andere Kindern beteiligt sein werden, tauchen diese sechs selbst fürs Publikum nur auf den Zuspielungen der Tablets auf. In einer zweiten Workshop-Phase ging es nun nicht allein darum, in die Lebenswelten dieser sechs »Filmkinder« einzusteigen. Uta Plate und Duri Collenberg schreiben:
»Unser Aufenthalt in Gelsenkirchen und in Bremen während der letzten zwei Wochen war vorwiegend von den Begegnungen mit Menschen geprägt, mit denen wir für »Fundstadt« in die künstlerische, inhaltliche Arbeit eintauchen werden, zum Teil auch schon sind.
o Die Kinder: Wir besuchen alle sechs Filmkinder einzeln, sie führen uns bei einem langen Spaziergang durch ihren Alltag. Dieser führt von Familie zu Schule, von Religion zu Freizeit, von Sichtbarem zu Imaginiertem.
o Die Musiker*innen: Es gibt ein erstes persönliches Gespräch mit Kolleg*innen der Bremer Philharmoniker und der Neuen Philharmonie Westfalen. Im März beginnt die Entwicklungsarbeit der Musik, es gilt viele Wege zu erproben, um von Klangvorstellungen der Kinder zu einer von Orchestermusiker*innen umsetzbaren Form zu kommen. Die beteiligten Instrumentalist*innen sollen von nun an in diesen Prozess mit eingebunden sein.
o Die Menschen rund ums Theater in Bremen und Gelsenkirchen: Mit dem Filmer Aaike Stuart besuchen wir Orte, zu denen uns die Spaziergänge mit den Kindern geführt haben. Es gibt erste Tests von Filmsets, kleine Testdrehs mit den Kindern. Für die Route unseres Walk finden wir dann Orte in der Nähe des Theaters, die als »Stationen« des Audio-Video-Walks repräsentativ für die Alltags- und Fantasieepisoden der Filmkinder sind. Dabei kommt es zu spontanen, wunderbar zugewandten Treffen mit Anwohner*innen, Tankstellenbesitzer*innen, Garageneigentümer*innen, Leiter*innen von einem Altenheim, deren Beteiligung die Vielfalt der Stationen des Walks und der Filmaufnahmen bereichern wird.«
© Björn Hickmann
Freie Theater- und Musiktheaterensembles arbeiten in Deutschland meist unter prekären Bedingungen. Bei den vorhandenen Förderinstitutionen hangeln sie sich von einem Projektantrag zum andern. Selten ist die Finanzierung dann hoch genug, um am Ende mehr als zwei oder drei Aufführungen zu erlauben. Arbeitsaufwand und Vorstellungszahl stehen dabei in kaum sinnvollem Verhältnis und manch ein Projekt hätte es mehr als verdient, eine größere Zahl an Zuschauer:innen zu erreichen.
Dass es auch anders geht, zeigen die Niederlande und Belgien. Wer Förderung dort erhält, erhält sie über mehrere Projekte hinweg, ist also strukturell abgesichert und kann längerfristiger planen. Geförderte Gruppen spielen ihre Stücke nicht nur wenige Male am Premierenort, sondern touren mit ihnen über die vielen Bühnen des Landes, da diese anders in Deutschland nicht mit eigenen Ensembles bestückt sind.
Das hat Auswirkungen auf die ästhetischen Formen, die Musiktheater dort annimmt. Schließlich müssen Projekte nicht nur vor einer kleineren Ingroup, wie sie in Deutschland normalerweise die Zuschauerschaft bildet, funktionieren, sondern vor der weit größeren Gruppe eines zwar interessierten, keineswegs aber aufs Zeitgenössische spezialisierten Publikums. Ein weitaus größeres Publikum als hierzulande wird dabei andererseits dort mit neueren Spielformen des Musiktheaters sozialisiert.
Die Zusammenarbeit mehrerer Bühnen im Rahmen des NOperas!-Programms versucht Synergien zu stiften, die das Dilemma hiesiger Förderstrukturen ein Stück weit ausgleichen. Allerdings wandern Produktionen dabei nicht als abgeschlossene Projekte von einer Bühne zur anderen, sondern finden hierbei gleichzeitig die Chance zur Weiterentwicklung. Wie sehr sich das lohnen kann, war bereits letzten Sommer bei der Bremer Weiterentwicklung von »Kitesh« zu erleben und nun auch jetzt bei der zweiten Station des »Obsessions«-Projekts in Wuppertal.
Maßgeblich für die veränderte Bühnenwirkung, die »Obsessions« in Wuppertal nun bekommen hat, ist der vergrößerte Raum, in dem die Einzelperson mit ihren Aktionen isolierter und deshalb hervorgehobener erscheint. Größer ist in Wuppertal gleichzeitig auch die räumliche Distanz zum Publikum. Das lässt die Bühnenaktion um vieles bildhafter als in Bremen wirken.
Auf jeweils neue Weise füllen die in Wuppertal dazugekommenen Performer:innen das in Bremen entwickelte und von dort übernommene Grundkonzept. War es in Bremen dabei noch leicht, Schauspieler:innen, Sänger:innen und die Mitglieder des Oblivia-Ensembles hinsichtlich der Art und Qualität ihrer jeweiligen Körperaktion zu unterscheiden, fügen sich die Performer:innen nun zu einem sehr viel geschlosseneren Ensemble, das auf homogener gemeinsamer Grundlage arbeitet.
Oblivias Arbeitsmethode ähnelt in manchem derjenigen von Pina Bausch, und auch wenn dieses choreografierte Theater ein ganz anderes ist, bei der Premiere scheint sich Wuppertal an alte Tage zurückerinnert zu haben. Es gab großen und anhaltenden Applaus.
Gelsenkirchener Musiktheaterwerkstatt: Mitwirkende Kinder, »Baumgesicht«, »Alien aus der Wand«, Sampler (© HIATUS)
Je über fünf Tage arbeiteten HIATUS im Oktober mit Gruppen von Kindern aus Bremen und Gelsenkirchen an der Entwicklung von »Klang-Bild-Ideen«. Als eigenständige, in sich abgeschlossene Events angelegt, dienen diese Workshops in einem zweiten Schritt jetzt der Auswahl und Rekrutierung von je drei Kindern aus jeder der Städte, die dann auch im Zentrum der Aufführung von »Fundstadt« stehen sollen. Eng ist nach der Methode von HIATUS das Finden und Erfinden von Klängen ans Visuelle und Bildnerische, konkret dabei am MiR zunächst an ein »Finden von Gesichtern« gekoppelt. Hier dokumentieren HIATUS ihren Gelsenkirchener Arbeitsprozess:
»Mit folgender Frage gehen wir ins Feld: In welcher Form können wir die Möglichkeiten der Musik als Arbeits- und Experimentierraum zur Verfügung stellen?«
Und damit konkretisieren sich erste Co-Kompositionsmethoden mit Kindern. Im Workshop beginnt das Forschen der Kinder mit drei Schwerpunkten:
Am Ende der Workshop-Woche finden die Aufführungen unserer »Wesenslieder« an unterschiedlichen Orten rund ums MiR statt, die diese drei Aspekte in Form einer Klangperformance zusammenführen. Dahin führt das »Pareidolie-Spiel«, ein über zwei Tage angelegter Prozess. Im ersten Schritt ziehen die Kinder los und finden im öffentlichen Raum »Gesichter« von Wesen in Gebäuden, Bäumen, Verkehrsschildern, etc. An diesen Orten machen sie Tonaufnahmen, die die Umgebungsgeräusche und einige ortsspezifische auffällige Geräusche einfangen. Zudem bespielt jedes Kind den »Wesensort« wie ein Instrument (z. B. im Kies scharren, ans Garagentor klopfen etc.). Mit all diesen Aufnahmen bauen wir pro Wesen ein Sampler-Instrument: Pro Tastendruck auf einer kleinen Klaviertastatur ertönt jeweils ein anderer Sound.
Unser gemeinsamer Ausgangspunkt, im öffentlichen Raum »Gesichter von Wesen« zu finden und denen dann über Geräusche Ausdruck zu geben, führte die Kinder zur Möglichkeit, mit einem Sampler zu experimentieren und ihre eigenen Aufnahmen als Bausteine zu »instant compositions« zusammenzuführen.
Am letzten Tag performen die Kinder mit dem Sampler an ihren »Wesensorten«. Wir erleben unterschiedliche Aufführungen:
Bauprobe »Obsessions« in Wuppertal: Alice Flerl, Annika Tudeer, Yran Zhao (© Roland Quitt)
An der Oper Wuppertal geht »Obsessions« nun in die zweite Runde. Letzte Woche gab es die Bauprobe, heute begann die Arbeit mit den Solist:innen, Premiere ist am 3. Dezember.
Zu »bauen« gab es eigentlich nichts auf der Bauprobe – gespielt wird auf leerer Bühne. Gemäß dem Ursprungskonzept sollte Wuppertals Drehbühne ein wesentliches Element der Aufführung sein, nach der Überflutung des Opernhauses im vergangen Jahr bleibt sie aber noch auf längere Zeit nicht einsatzfähig. Wie schon in Bremen sind auch hier die Instrumentalist:innen ins Bühnengeschehen integriert: In Bremens kleinem Haus mussten sie links an der Seite sitzen, hier, auf der großen Bühne, ergeben sich andere Möglichkeiten, mehrere wurden nun optisch und akustisch erprobt.
Aus dem Bremer Ensemble ist Matthieu Svetchine mit an die Wupper gekommen. Außer ihm und den Akteur:innen von Oblivia handelt es sich um neue Akteure:innen. Die mehrteilige Form, die das Projekt sowohl musikalisch als auch theatral in Bremen angenommen hat, dient in Wuppertal nun als grundsätzliches Raster, das durch eigenen Input der Wuppertaler Performer* neu zu füllen ist. Auch für die Neuen geht es also nun darum, aus der improvisatorischen Beschäftigung mit dem Thema »Obsessions« indidividuelle Theateraktionen herzuleiten.
Um nur eine »Neueinstudierung« kann es sich schon wegen der ganz anderen Dimensionierung des Bühnenraums nicht handeln. Wuppertals Bühne ist nun nicht nur um vieles breiter, sondern auch ebenso viel tiefer, was, anders als in Bremen, nun unter anderem auch ein Denken in den Kategorien von Vorder- und Hintergrund nahelegt. Zwar ist die Zahl der Instrumentalist:innen gewachsen, die der Performer:innen bleibt aber gleich – viel weniger geht der Einzelne in diesem größeren Raum in der Gruppe auf, Einzelaktionen werden also hervorgehobener, exponierter erscheinen.
Yran Zhao hat ihre Komposition auf die größere Besetzung hin umgearbeitet und dabei gleichzeitig ein neues Notationssystem geschaffen. Durch flexiblere Anweisungen soll sich die musikalische Ausführung stärker noch als in Bremen ans Szenische anpassen lassen.
Das neue Team: Vincze, Horwitz, Emmerich, Hut Kono, Petrović, Menzel
Jedes Jahr zeigen die Bewerbungen bei NOperas!: Die freie Szene quillt über von Ideen für ein neues Musiktheater. Vor allem immersive Konzepte haben unter den Bewerbungen derzeit Konjunktur. Viele der eingereichten Projekte hätten es auch in diesem Jahr verdient gehabt, den Weg ans Stadttheater zu finden. Mit der Entscheidung hat sich die Jury entsprechend auch diesmal schwer getan. Nach einer zusätzlich anberaumten (und also dritten) Jurysitzung steht das Projekt für die Spielzeit 2024/24 nun fest: Es trägt den Arbeitstitel »XinSheng«. Zum Produktionsteam gehören Davor Vincze (Musik), Aleksandar Hut Kono (Text), Heinrich Horwitz (Regie), Magdalena Emmerig (Bühnenbild), Premil Petrović (mus. Leitung), Therese Menzel (Produktionsleitung).
Das chinesische Wort xīn shēng (新生) weist in die Assoziationssphäre von Regeneration und neuem Leben. Hier steht es für eine fiktionale Droge, die Zuwachs an Energie im Konkurrenzkampf verspricht, jedoch verschwiegene Nebenwirkungen besitzt und zu einem verfrühten Tod führt.
»XinSheng« ist ein intermediales Projekt, in dem das Live-Element von Bühnenaktion auf gleichberechtigter Ebene durch digitale Medien ergänzt wird. »Das Stück«, so heißt es in der Bewerbung, »möchte das Publikum für einen halb verträumten, unheimlichen Zustand sensibilisieren, in dem alles verworren, lose definiert und leicht widersprüchlich ist«. Im Zentrum soll die Frage stehen, auf welche Weise wir aus einem Übermaß fragmentierter und dabei oft widersprüchlicher Informationen »Realität« konstruieren. Zum genaueren Verständnis der Handlung soll das Publikum auf den Einsatz von Smartphones angewiesen sein – nicht jeder und jede soll hier aber auf gleiche Informationen stoßen.
Davor Vincze ist Träger mehrerer Kompositionspreise. Seine Musik wird von wichtigen Ensembles für zeitgenössische Musik (u.a. Ensemble Modern, Ensemble Intercontemporain, Klangforum Wien) aufgeführt. Analog der visuellen Ebene sollen sich auch auf der musikalischen Live-Performance, reale Instrumente im Moment der Hervorbringung von Klang, und »elektronische« aus dem Bereich digitaler Zuspielung mischen.
Aleksandar Hut Kono veröffentlichte zwei in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens mit mehreren Preisen ausgezeichnete Lyrikbände. Mit Libretti für den US-amerikanischen Komponisten Evan Kassof sammelte er zudem Erfahrung im Feld des Musiktheaters.
Mehrere Arbeiten führten Heinrich Horwitz (they/them/she/her/he/him) als Choreograf:in und Regisseur:in bereits mit renommierten Komponist:innen und Musikensembles zusammen. Zuletzt verantwortete er im Rahmen der diesjährigen Ruhrtriennale mit Sarah Nemtsov und Rosa Wernecke das Musiktheater »HAUS«. Kontinuierlich arbeitet er als Schauspieler:in daneben in Theater, Film und Fernsehen.
Typisch fürs Aufbrechen herkömmlicher Berufsfelder im Feld neuen Musiktheaters führt Magdalena Emmerigs Arbeit übers Gebiet ihres Studiums als Kostüm- und Bühnenbildernerin hinaus. In Videoarbeiten und Performances beschäftigt sie sich mit dem theatralen Potential digitaler Medien und mit den Bildern von Geschlecht und Weiblichkeit. Als Teil der Gruppe »THE AGENCY« arbeitet sie an immersiven Theaterinstallationen.
Premil Petrović ist künstlerischer Leiter des von ihm 2012 gegründeten No Borders Orchestra. Seine erste Aufnahme mit dem NBO ist bei Universal Music/Deutsche Grammophon erschienen.
Der Fonds Experimentelles Musiktheater freut sich auf dies neue Team!
Die NOperas!-Juryrunde für die Spielzeit 2023/24. Christian Esch (feXm), Csaba Kezer (feXm), Rainer Nonnenmann, Susanne Blumenthal, Kirsten Uttendorf (Staatstheater Darmstadt), Brigitte Heusinger (Theater Bremen), Roland Quitt (feXm), Michael Schulz (Musiktheater im Revier), Moritz Lobeck
Am 13. September tagte die feXm-Jury. Ort war die Kunststiftung NRW in Düsseldorf. Neu in der Runde war nicht nur das Staatstheater Darmstadt, sondern auch das Expert:innenteam aus Susanne Blumenthal, Rainer Nonnenmann und Moritz Lobeck. Sechsunddreißig Bewerbungen waren im Vorfeld zu begutachten (im Jahr davor waren es neunundzwanzig). Fünf Finalistinnen standen nach einem langen Tag fest. Wie immer hätte man gern einige mehr in die engere Wahl gezogen. Diese sind eingeladen nun zu einem vertiefenden Gespräch mit der Jury am 26. September im NRW KULTURsekretariat.
© Roland Quitt
Unter den bisherigen NOperas!-Projekten ist »Kitesh« das aufwendigste. Wie in Halle waren jetzt auch in Bremen, das in dieser Saison gleich zwei NOperas!-Produktion im Spielplan hat, alle Abteilungen mit intensiver Arbeit beteiligt. In kluger Berücksichtigung, dass »Kitesh« nun anderthalb Jahre »lag«, legte Bremen auf die vereinbarte Probenzeit zusätzliche zehn Tage drauf. All der Aufwand, zeigt die Premiere, hat sich gelohnt.
Immer noch besteht »Kitesh« aus drei Teilen. Einem im Stadtraum (das Publikum ist in Gruppen aufgeteilt), einem im Foyer (jeder geht seinen eigenen Weg) und einem dritten in der traditionellen Situation der Guckkastenbühne. Ein bewaffneter Hunnensturm im Parkett und wilde Fluchten in den Rängen lassen einen allerdings selbst da nicht wirklich zur Ruhe kommen.
Durch eine erfolgreiche Inszenierung können im Opernbetrieb ganze Generationen von Sänger:innen geschleust werden. Hauptaufgabe jedes Regieassistenten, der jeweiligen neuen Besetzung Wege und Aktionen zu zeigen, die von anderen entwickelt und einstudiert worden sind. Ein Regisseur legt es deshalb besser nicht darauf an, seine Arbeit allzusehr von äußerer Erscheingung, Persönlichkeit und Individualität seiner Premierenbesetzung abhängig zu machen. »Hauen und Stechen« haben sich einen Namen gemacht mit einem Konzept, das genau umgekehrt funktioniert und den Sängerdarsteller befreit aus dem Marionettendasein. Mit der weitgehend neuen Bremer Besetzung ist dabei ein neues Stück mit veränderten Figuren, Charakteren und Schwerpunkten entstanden.
»Kitesh« in Halle war ein Spektakel aus noch grob behauenen Bausteinen, Improvisationslust flickte, was eher noch unfertig war. Kaum einer beschwerte sich, dass er der Handlung kaum folgen konnte – das Spektel wog das auf. In Bremen jetzt waren feinere Linien gezogen, die manchen interpretatorischen Eingriff in Rimskis Oper verständlicher machten und ihrer verschwurbelten Vertröstung aufs Jenseits eine neue und verblüffende Lesart abgewannen.
Rimskis Kitesh-Oper kam 1916 zur Uraufführung, im selben Jahr wie Schönbergs Kammersinfonie. Sie hat vielerlei berückend schöne Stellen, ist an anderen aber kaum frei von folkloristischem Kitsch. Wagemutig, sie einfach herunter zu instrumentieren, wo doch vor allem im Zauber der Orchesterfarben Rimskis vielgerühmte Stärke zu liegen scheint. Ich meinte in Halle meine Meinung bestätigt, dass das kaum gutgehen kann. In Bremen jetzt hörte ich es anders. Von allem Wabern befreit und eingebettet in die zeitgenössischen Klänge Alexander Chernikovs, tritt nun vor allem Rimskis melodischer Erfindungsgeist zu Tage. Seine Musik wirkt zitathaft oder als Folklore, kaum aber folkloristisch mehr.
Präziser geworden ist auch die Ausarbeitung des fast ununterbrochenen Doppelgeschehens von Bühnenaktion und gleichzeitiger Vergrößerung szenischer Details durch die Beobachtung einer Live-Kamera. Beim Untergang Kiteshs greifen versinkender Graben und drüberprojizierter Film jetzt so ineinander, dass Ahs und Ohs aus dem Publikum zu hören sind.
Der Andrang auf »Kitesh« war groß und so verkaufte Bremen für die folgenden Vorstellungen zusätzliche Karten, trotz des Gedränges, das für den ersten Teil dabei in Kauf zu nehmen war.
Eine Windmachine brachte noch in der Hauptprobe eine rote Fahne zum Wehen. In der Hauptrobe hat sie ihre Farbe gewechselt. Was 2020 in Halle ging, geht plötzlich nirgendwo in Europa mehr. Es gibt Leute, die meinen, man solle derzeit keine Stücke russischer Komponisten spielen. Sie zu spielen, erscheint im Gegenteil nun wichtiger als bisher.
© Sava Hlavacek
Das Gelände des Blickfelder-Festivals liegt im Freien am sogenannen Turbinenplatz direkt hinter dem Züricher Schiffbau. Trotz des Festivals sind an diesem Sonntag nicht viele hier unterwegs. Ein Platz im Schatten erscheint den meisten erstrebenswerter als die Teilnahme an einem Stadtraumprojekt, das in der sengenden Hitze die Züricher Hügel hinauf und hinunter führt. »Du kommst an zwei Brunnen vorbei, nimm trotzdem genug Wasser mit!« lautet die Instruktion. Und auf geht’s zu einer audio- und videogesteuerten Schnitzeljagd, die infamerweise gleich zweimal die Limmat entlang führt, wo halb Zürich im Fluss gerade Abkühlung findet.
»Vier Viertel« handelt von der Erfahrungswelt von Kindern aus vier unterschiedlichen Züricher Stadtvierteln und dient gleichzeitig der Vorbereitung von »Fundstadt«, also des NOperas!-Projekts, das im kommenden Sommer in Gelsenkirchen und Bremen zur Aufführung kommt.
Für ihren Audio-und-Video-Walk haben HIATUS ein audiovisuelles Leitsystem erfunden, das auch später in »Fundstadt« zu Einsatz kommt. Erst bin ich genervt, wie kompliziert es ist, die ganze Montur umzuschnallen: eine Verbindung aus Tablet, Kopfhörer, Cape und Kapuze. Schnell beginne ich dann zu begreifen, wie ausgeklügelt sie ist. Nicht vor Regen, sondern vor Hitzeschlag schützt mich an diesem Tag die Kapuze. Wo’s zur Überquerung von Straßen kommt, sagt mir das Tablet, dass ich die Kopfhörer absetzen soll.
Vier Züricher Kinder lerne ich kennen auf dem Weg durch die vier Züricher Viertel. Höre ihre Stimme. Höre ihre Musik. Sehe sie als Personen in gespenstischer Weise auf dem Tablet in eben der Szenerie erscheinen, an der ich grad Halt mache.
Vier Viertel, das bedeutet einen ungefähr einstündigen Weg durch unterschiedliche Züricher Milieus. Kommt es mir zu unrecht so vor, als ob selbst die zwei toughesten Mädchen im Züricher Wunderland ein immer noch aufgehobeneres Leben führen als vielleicht doch einige Mädchen in Gelsenkirchen?
»Vier Viertel« ist ein schöner und inspirierender Ausgangspunkt fürs Nachdenken und weitere Diskutieren über »Fundstadt«, ein Projekt, das anders als dasjenige in Zürich auch die Live-Aktion von Theater einschließen soll. Gelsenkirchen und Bremen sollen miteinander kurzgeschlossen werden. Wie aber zeigt man Gelsenkirchen in Bremen und umgekehrt? Und wie kann man gleichzeitig daran festhalten, die Kinder in jeweils »ihrem« Milieu zu zeigen? Was tritt an die Stelle des einsamen Züricher Schnitzeljagd-Abenteuers, wenn bei »Fundstadt« dann ganze Besuchergruppen gemeinsam auf den Weg geschickt werden?
Noch stehen wir mit »Fundstadt« ganz am Anfang.